
Thomas Bernhard: Größtes Täuschungsmanöver der Literaturgeschichte
Thomas Bernhard lebt Der Weitergeher
Thomas Bernhard ist nicht tot. Er hat sich nur versteckt. Während die Öffentlichkeit seinen Tod am 12. Februar 1989 betrauert und er in Österreich schlagartig vom Nestbeschmutzer zum nationalen Heiligtum aufsteigt, unterzieht sich der schwer kranke Schriftsteller in New York einer Antikörperbehandlung. Die lässt ihn tatsächlich gesunden, und so ist Bernhard ein geheimes Nachleben unter dem Namen Franz-Josef Murau auf Mallorca beschieden. Bis ihm ein verlotterter Kulturjournalist auf die Spur kommt.
Das ist die Ausgangslage in Schimmelbuschs großartigem, auf komische Art distinguierten Roman "Die Murau Identität", der vieles zugleich ist: ein Fiebertraum, der um die Geistesheroen Österreichs kreist, eine Mediensatire, eine Literaturbetriebsklamotte, eine Groteske, die Zustände im krisenversehrten Südeuropa im Zerrspiegel zeigt. Und zuletzt eine Hommage an Bernhard selbst, in der sich der Ich-Erzähler von Zeit und Zeit als emotional ziemlich abgefuckte Heulsuse entpuppt, die sich in einen beachtlichen Beschuldigungsfuror hineinsteigert: Seine Beschwerden über die eigene, tyrannische Ex-Frau sind Suaden, die Bernhardsche Qualität besitzen. Dazu kommen zahlreiche Anspielungen, sei es der Name Murau, eigentlich der des Protagonisten von Bernhards Hauptwerk "Auslöschung", oder der "Ohrensessel", eigentlich zentrales Möbelstück in "Holzfällen".
Der Österreicher Schimmelbusch, 1975 in Frankfurt geboren und in New York aufgewachsen, lässt in "Die Murau Identität" zwei Berichterstatter auftreten. Zum einen ein Alter ego namens Alexander Schimmelbusch, das zum Zeitungsprekariat gehört und wenig gelesene Bücher schreibt - ein Vexierspiel, in dem er die Gestalt eines selbstironischen, seine Kreditkarten überreizenden Schnösels annimmt, wie man ihm in den Texten des jungen Christian Krachts oder in Rafael Horzons "Weißem Buch" hätte begegnen können.
Gewalttätiger ist der Akt, mit dem er sich des Bernhard-Verlegers Siegfried Unseld bemächtigt: Auf einer zweiten Erzählebene liest der Erzähler die Reiseberichte des Big Players in der Buchbranche, der - in Schimmelbuschs Fiktion - als einer der wenigen von Bernhards Weiterleben weiß und ihn zwischen den Jahren 1992 und 2000 regelmäßig in Spanien, Österreich und Amerika trifft, sein Komplize und Finanzier ist.
Sohn an der Wall Street
Murau, also: Bernhard hat einen Sohn, der in New York an der Wall Street tätig ist: im Derivatehandel. Bernhard selbst arbeitet an seiner Autobiografie ("Anima Negra") und macht ansonsten das, was er immer getan hat - er geht den Verleger um Geld an. Den echten Briefwechsel zwischen Bernhard und Unseld hat Schimmelbusch genau gelesen, und was dort ein Zeugnis von großer Wichtigkeit für Bernhard-Exegeten ist, wird im Roman zum komischen Trip.
Bei Schimmelbusch darf Bernhard nachträglich auf seinem Intimfeind Handke herumhacken, der ihn jahrelang mit seinem Hass bekämpft hatte, und der berühmte Literaturagent Andrew Wylie hat einen Gastauftritt. Zusammen mit Bernhard arbeitet er an der endgültigen Überwindung der Literatur: Der Mensch soll mit Hilfe von iMind lieber gleich ins Bewusstsein anderer fahren als Bücher zu lesen.
Der Bernhard-Verleger ist bei Schimmelbusch dagegen weniger visionär: Er räsoniert über Vater-Sohn-Konflikte und den Stellenwert der Fellatio in Manhattan ("Das Blasen ist hier nicht mehr als ein feuchter Händedruck"), außerdem wartet er mit stoischer Geduld auf die versprochene Bernhard-Autobiografie. Dabei ist er sich der eigenen Bedeutung bewusst - sogar beim Schwimmen: "Delfine sprangen aus meiner Bugwelle, ich fühlte mich lebendig, wie ein silberner Meeresfisch, von unbezwingbarer Manneskraft vorangetragen."
"Die Murau Identität" ist ein parodistisches Glanzstück, eine gelungene Dekonstruktion des Bernhard-Mythos, der mit den Mitteln der Satire neu zusammengesetzt wird - und ein Spiel mit den Gesetzen des Nachruhms, das Schimmelbusch kurios in Szene setzt.
Die Erzähl-Gegenwart ist eher trist: Am Airport in Barcelona empfängt ein Banner ("Fuck Europe") die Gäste, und der inzwischen 83-jährige Bernhard bedauert im finalen Zusammentreffen mit seinem Verfolger, sich im klandestinen Weiterexistieren wieder für das Schreiben und gegen das bürgerliche Leben mit Frau und Kind entschieden zu haben.
Denn mag die internationale Literaturkritik anlässlich des 25. Todestages auch Bernhards gedenken - bei Schimmelbusch wütet er weiter.