
Französischer Theoretiker: Die Wiederentdeckung des Küssens
Theorie des Küssens Hände hoch, oder ich knutsch dich
Eine Szene von fast universeller Gültigkeit: An einem Winterabend wird Alexandre Lacroix von seiner Frau beiseite genommen. Sie macht ihm einen Vorwurf, den er schon häufig gehört hat: "Du küsst mich viel zu selten! Warum kommt es dir nie in den Sinn, mich in deine Arme zu nehmen?" Der Franzose reagiert, wie es wohl auch ein Gutteil der verheirateten Männer in Deutschland tun würde. Mit einem Achselzucken.
Doch Lacroix, Jahrgang 1975 und damit eigentlich zu jung, um im Privatleben schon zu resignieren, wäre ein schlechter Philosoph, hätte er sich nicht später am Abend, als seine Frau schon schlief, an den Schreibtisch gesetzt. Dabei herausgekommen ist ein Buch: "Kleiner Versuch über das Küssen".
Der schmale Essay kann es an Schwung mit jedem guten Kuss aufnehmen. Die Leidenschaft, die Lacroix im Eheleben vermissen lässt, hat er offenbar in dieses Buch gesteckt. Er befasst sich mit Freud, den Schriftstellern Rousseau und de Sade, dem Maler Gustav Klimt und mit James Bond. In den Agenten-Filmen, zeigt Lacroix, habe der Kuss seit den Sechzigern seine Funktion völlig gewechselt: Damals, zu Zeiten Sean Connerys, noch ein Höhepunkt des Films, verschafft er nun nur noch eine Verschnaufpause.
Wie im Drogenrausch
Vor allem aber beschäftigt Lacroix sich in diesem Buch mit sich selbst. Zuerst versucht er noch, sein Verhalten der eigenen Frau gegenüber zu rechtfertigen: "Es gibt langweilige oder misslungene Küsse" schreibt er und folgert kühn, man könne problemlos sein Leben mit jemandem teilen, der schlecht küsst. Erst einige Kapitel später gesteht er ein: "Es gibt kein besseres Barometer für den Zustand des Paares als den Kuss." Der, meint Lacroix, sei das Schmieröl für die Mechanik der Ehe - und findet in Abgrenzung dazu die treffende Metapher für den auf ein Minimum reduzierten Begrüßungs- und Abschiedskuss: "Dann gleicht der Kuss nurmehr dem Entwerten eines Fahrscheins."
Und das ausgerechnet in Paris!
Hatte man nicht "Le Baiser de l'Hôtel de Ville" im Hinterkopf? Die - auch von Lacroix erwähnte - weltberühmte Fotografie Robert Doisneaus? Auf der die französische Hauptstadt als unangefochtene Metropole des french kiss erscheint? (siehe Fotostrecke)
Aber auch Lacroix, als Vater dreier Kinder und Chefredakteur eines Philosophiemagazins anscheinend am Rande seiner Kräfte, verspürte einmal mehr Leidenschaft. Zu den schönsten Passagen seines Buchs gehört die, in der er jenen Moment beschreibt, der die Beteiligten so berauschen kann wie ein ordentlicher Schnaps oder was auch immer die Droge der Wahl sein sollte: Den ersten Kuss zwischen zweien, die sich gerade erst näher gekommen sind.
Happy End
"Wir kommen aus einem Café", beschreibt Lacroix die typische Situation, "du verlangsamst deinen Schritt. Wir wissen nicht, wohin wir als Nächstes gehen sollen, lassen uns lieber treiben." Die Frau sagt nichts. Die beiden haben nicht einmal die Richtung eines Metroeingangs eingeschlagen - schon nach hundert Metern aber, so Lacroix, werde das Ziel des Herumschlenderns explizit. "Du bist erheblich langsamer geworden, nun ist es an mir, stehen zu bleiben. Ich nehme dich bei der Hand oder bei der Schulter oder beim Ellbogen. Du drehst dich um neunzig Grad um die eigene Achse. Jetzt stehen wir uns gegenüber."
Ein schwebender Augenblick von übersinnlichem Zauber. Und Zeit, einen retardierenden Moment einzufügen: "Du weißt, dass ich dich küssen werde, deshalb weichst du zurück. Du flüchtest dich in den einfachen Reflex der Verweigerung."
Es mag Männer geben, die so einen ambivalenten, leicht falsch deutbaren Moment etwas zu offensiv zu ihrem Gunsten ausgelegt hätten. Aber Lacroix ist kein Typ für anachronistische Anzüglichkeiten wie Rainer Brüderle, und steht, anders als Strauss-Kahn, nicht im Verdacht, sich das mit Gewalt zu nehmen, was ihm begehrenswert erscheint.
In der von ihm geschilderten Szene beruhen die Gefühle auf Gegenseitigkeit. "Wir sind die Einzigen, die sich gefunden haben. Die Fußgänger irren umher, orientierungslos. Sie sind freie Elektronen, die einer irrwitzigen Bahn folgen, während sich unsere Atome ineinander verhakt haben. Eine ganze Hauptstadt löst sich auf, zehn Millionen Menschen verschwinden, wenn sich unsere Augen schließen."
Seine eigene Frau mag Lacroix mit allzu viel Gleichgültigkeit strafen. Mit diesem Buch aber lässt er dem Küssen, das in einer Zeit erotischer Hochrüstung oft gering geschätzt wird, die fällige Wiederentdeckung zukommen: als sanfteste und mächtigste Waffe des Menschen. Eine These, die nicht nur auf ein Happy End zwischen den Geschlechtern allgemein hoffen lässt, sondern sogar auf eines zwischen Lacroix und seiner Frau. Schließlich kann er ihr einen Kuss kaum mehr verwehren, wenn er die Argumente seines eigenen Buchs ernst nimmt.
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