Alles, was man lesen muss Reich-Ranicki präsentiert seinen Literatur-Kanon in Buchform
Frankfurt/Main - Im Juni vergangenen Jahres erstellte der Literaturkritiker exklusiv für den SPIEGEL einen chronologischen Kanon der deutschsprachigen Literatur. "Empfehlenswerte, wichtige und exemplarische Werke" waren darin enthalten, ein Leitfaden, dem der Impetus "Alles, was man lesen muss" anhaftete.
Ein Jahr später steht Reich-Ranickis nicht unumstrittener Kanon kurz davor, sich in Form einer Sonderedition zu manifestieren. In Frankfurt präsentierte der deutsche Kritiker-Papst am Mittwoch den ersten Teil der insgesamt fünfbändigen Kanon-Ausgabe, eine Kassette mit den 20 wichtigsten Romanen der deutschsprachigen Belletristik, die im September veröffentlicht wird. Sechs deutsche Verlage unter Federführung des Frankfurter Insel Verlags schlossen sich zusammen, um das ehrgeizige Sammelprojekt zu realisieren. In den folgenden Monaten werden weitere Teile der Edition erscheinen, die sich den Gattungen Drama, Lyrik, Erzählungen und Essay widmen werden.
Nach eigenen Angaben hat der Kritiker seine Empfehlungsliste für Leser und nicht in erster Linie für Germanistikstudenten zusammengestellt. "Ich wollte einen Kanon machen, den heutige an Literatur interessierte Menschen lesen können - nicht nur, weil sie darüber geprüft werden." Er habe sich bei der Auswahl sehr viel Mühe gegeben und alle in Frage kommenden Romane sehr sorgfältig abgewogen. "Sie werden nichts finden, was ich übersehen hätte." Zwangsläufig, so Reich-Ranicki, haben allerdings angesichts von nur 20 Titeln einige Autoren unter den Tisch fallen müssen.
"Jung sein genügt noch nicht"
- "Die Leiden des jungen Werther"
- "Die Wahlverwandschaften"
- "Frau Jenny Treibel"
- "Effi Briest"
- "Der Proceß"
"Ich kenne keinen Roman von Martin Walser, der neben der "Blechtrommel" oder "Holzfällen" stehen könnte. Keinen einzigen, tut mir Leid", begründete Reich-Ranicki seinen Verzicht auf einen Walser-Roman. Auch Dürrenmatt habe keine guten Romane geschrieben, "alles oberflächlich". Beide Schriftsteller würden aber, wie auch Uwe Johnson, in den Erzähl-, Essay- oder Gedichtbänden auftauchen. Sicherlich sei die Zusammenstellung auch fragwürdig, räumte der Kritiker ein: "Der Zugang zu Literatur ist immer subjektiv, sehr von Persönlichem geleitet, und natürlich trägt die Liste meine Handschrift." Der Kanon sei nicht als "Gesetzbuch" oder Vorschrift gedacht, sondern als Vorschlag oder Angebot.
Zu dem am Mittwoch in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" geäußerten Vorwurf des Schriftstellers Thomas Hettche, Reich-Ranicki habe mit seiner "verstockten Perspektive" keinen Roman ausgewählt, der nach Thomas Bernhards "Holzfällen" (1984) erschien, sagte der Kritiker, er sei zuständig "für die Literatur der Vergangenheit und der Gegenwart, nicht der Zukunft". Er sehe unter den Autoren der Gegenwart nichts seiner Auswahl Vergleichbares. "Jung sein genügt noch nicht", meinte er. An der Romansammlung sind neben Insel auch der Suhrkamp Verlag sowie die Taschenbuchverlage Aufbau, Fischer, Rowohlt und dtv beteiligt. Weitere Verlage sollen für die weiteren Gattungen mit ins Boot geholt werden.
Folgende 20 Romantitel enthält der erste Teil des Reich-Ranicki-Kanons:
Johann Wolfgang von Goethe: "Die Leiden des jungen Werther"
: "Die Elixiere des Teufels"
Gottfried Keller: "Der grüne Heinrich"
Theodor FontaneTheodor FontaneThomas Mann: "Die Buddenbrooks"
Thomas Mann: "Der Zauberberg"
Heinrich Mann: "Professor Unrat"
Hermann Hesse: "Unterm Rad"
Robert Musil: "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß"
Franz KafkaAlfred Döblin: "Berlin Alexanderplatz"
Joseph Roth: "Radetzkymarsch"
: "Das siebte Kreuz"
Heimito von Doderer: "Die Strudlhofstiege"
Wolfgang Koeppen: "Tauben im Gras"
Günter Grass: "Die Blechtrommel"
Max Frisch: "Montauk"
Thomas Bernhard: "Holzfällen"