
"Lob der schlechten Laune": Gegen den Zwangsoptimismus
Plädoyer für schlechte Laune "Wer sich freut, denkt nicht"

Andrea Gerk, Jahrgang 1967, hat Angewandte Theaterwissenschaften studiert und arbeitet als Kulturjournalistin und Moderatorin für verschiedene Hörfunksender der ARD. Ihr Buch "Lesen als Medizin" über Bibliotherapie erschien 2015. Sie lebt in Berlin.
SPIEGEL ONLINE: Andrea Gerk, Sie leben in Berlin, ich erwische Sie nun in Köln. Kommen Sie klar mit der rheinischen Frohnatur?
Gerk: Total. Hier spricht sogar der Pförtner mit einem, wenn man morgens zur Arbeit kommt. Die Berliner sind hingegen in der Regel wortkarg und verschlossen - diese Anzeichen erwecken den Eindruck von Übellaunigkeit. Und schon Charles Dickens sagte schließlich: Nichts ist so ansteckend wie schlechte Laune.
SPIEGEL ONLINE: Sie haben dennoch ein "Lob der schlechten Laune" geschrieben. Wozu brauchen wir sie denn?
Gerk: Ich wollte zeigen, dass sie auch positive Seiten hat. In unserer Gesellschaft herrscht geradezu Zwangsoptimismus. Das Glück, die Zufriedenheit haben Konjunktur, die einschlägigen Ratgeber verkaufen sich wie geschnitten Brot. Mein Buch ist daher auch eine Art Selbstverteidigungsschrift. Ein guter Freund sagte mir mal beim Mittagessen: Schreib doch mal ein Buch über schlechte Laune, davon verstehst du wenigstens was. Ganz schön frech, dachte ich zuerst. Und fing dann an zu recherchieren.
SPIEGEL ONLINE: Und was haben Sie über die schlechte Laune in unserer Ära der Selbstoptimierung herausgefunden?
Gerk: Es scheint wie mit der Gesundheit zu sein: Es gehört dazu, auf seine Ernährung zu achten, tut man's nicht, gilt das als Zeichen von Kontrollverlust. Unsere Laune ist etwas Unbeständiges, ein archaischer Rest, der sich Bahn bricht. Das scheint für manche bedrohlich - und passt nicht zum Image, alles im Griff zu haben. Während in meiner Kindheit chronische Murrköpfe noch normal waren, sind diese ruppigen Seiten in der Persönlichkeit heute verpönt.
SPIEGEL ONLINE: Miesepeter wie Dr. House, Saga Noren in "Die Brücke" oder, früher, Schimanski fallen da wie Fremdkörper auf - wieso gibt es eine Renaissance solcher Rollen?
Gerk: Vielleicht weil wir in dieser Wellness-Wohlfühl-Ära leben und wir uns nicht mehr trauen, jene Elemente im Alltag auszuleben. Wenn uns nun Stellvertreter dieses Verdrängte vorführen, hat das einen kathartischen Effekt. Dass diese Nachahmung funktioniert, wissen wir schon seit der antiken Dramentheorie. Oder nehmen Sie die Miesepetrigkeit, mit der Wilhelm Genazinos Figuren durch den Alltag schlurfen: Sie sind übersensibilisiert und nehmen Dinge wahr, die uns gar nicht auffallen. So schauen wir selbst genauer in die staubigen Ecken des Lebens. Meine Recherche zeigte deutlich: Gerade schlechte Laune macht produktiv.
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31.05.2023 22.50 Uhr
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SPIEGEL ONLINE: Unzufriedenheit als Motor also?
Gerk: Der Philosoph Konrad Paul Liessmann sagt treffend: "Wer sich freut, denkt nicht." Sprich: Wer gute Laune hat, legt sich in die Hängematte und isst ein Eis, grübelt aber nicht. Doch wir brauchen den Grundzweifel, der hinter der schlechten Laune steckt, um zu philosophieren - und Sachen voranzutreiben. Es hat mich beglückt, festzustellen, dass Personen wie Newton, Schopenhauer oder Helmut Schmidt, die wahnsinnig viel geleistet haben, notorisch übellaunig waren. Es gibt offenbar einen Zusammenhang zwischen erhöhter Geistesgegenwart und schlechter Stimmung.
SPIEGEL ONLINE: Ist der Wahlkampf also so mau, weil die gute Laune herrscht? Laut einer Studie sind die Deutschen derzeit zufrieden wie nie seit der Wiedervereinigung.
Gerk: Auch wenn ich die Stimmung eher Gleichgültigkeit denn gute Laune nennen würde: Als Diagnostikerin einer gesamtgesellschaftlichen Stimmung bin ich die Falsche. Doch es ist verwunderlich, dass diejenigen, die empört sind, nur die Populisten sind - und das hat nichts mit schlechter Laune zu tun, das ist selbstmitleidiges Gejammere.
SPIEGEL ONLINE: Aber sie begreifen sich doch als Speerspitze einer Empörungsgesellschaft, wollen etwas ändern.
Gerk: Ich habe mir in der Kunst angeschaut, wann Übellaunigkeit produktiv wird. Sie führt immer dann zu etwas Neuem, wenn sie selbstironisch ist. Das fehlt den Populisten völlig. Wie auch Trump, der die ganze Zeit mit missmutigem Gesicht regiert, als vermeintliches Zeichen von Macht. Schlechte schlechte Laune brodelt nur im eigenen Sud vor sich hin. Sie will nichts. Nur stänkern. Und andere verstimmen. Das zeigt sich auch in der Schimpfkultur: Früher, bei den alten Übelkrähen Herbert Wehner oder Franz Josef Strauß, war sie geradezu spielerisch, hatte Sprachwitz. Heute ist sie in erster Linie diffamierend, boshaft und beleidigend.
SPIEGEL ONLINE: Sind Sie nun dank Ihrer Recherche eigentlich besser schlecht gelaunt?
Gerk: Vor allem kann ich mir die miese Laune anderer besser vom Hals halten und sehe das Komische daran. Aber das Schöpferische meines Berufs ist stets mit Unwohlsein verbunden. Nun ist mir nicht nur bewusster, dass diese Stimmung schnell vorbei geht. Es fällt mir leichter, sie nicht zu unterdrücken, sondern mich reinfallen zu lassen. Auf dem Weg zur Kreativität ist schlechte Laune unvermeidlich.