"Angstblüte" Walsers Busenschlamassel
Walser heißt Verläßlichkeit. Seit mehr als fünfzig Jahren erscheint alle zwei, drei Jahre ein neuer Roman. Dazwischen gibt es Essaybände, Reden, Gespräche, und seit kurzem hat der Rowohlt-Verlag auch begonnen, seine Tagebücher zu veröffentlichen. Keine Buchsaison ohne einen neuen Walser. Kein Jahr ohne gebundene Neuigkeiten vom Bodensee. Etwa jedes dritte Jahr eine Debatte, die seinen Namen als Vornamen trägt. Nächstes Jahr wird er achtzig. Und die Maschine läuft und läuft.
In dieser Woche erscheint sein neuer Roman. Er heißt "Angstblüte", und es geht um die Liebe und um Sex, um einen alternden Mann, der aus seinem scheinbar gesicherten bürgerlichen Leben herausgeschleudert wird durch die Verführungskraft einer jungen, wunderschönen Frau. Ein Walser-Roman eben. Wir sprechen von Verläßlichkeit. Von der Wiederkehr des Immergleichen in immer neuen Farben, neuen Worten, neuen Geschichten. Es ist die direkte Fortschreibung des letzten Walsers, des Romans "Der Augenblick der Liebe", der vor zwei Jahren erschien und durch seinen penetrant selbstmitleidigen Ton, schmierige Sexphantasien und seine Deutschland-Heulerei so gründlich mißlungen war. Doch "Angstblüte" ist anders. Ist selbstbewußter und schutzloser, radikaler und so schamlos und frei wie kein Walser zuvor.
Vieles liegt am neuen Helden. An Karl von Kahn, Geldvermehrer von Beruf, kein Würstchen von Anfang an, wie Gottlieb Zürn, der alte Weichling aus den früheren Walser-Büchern. Ja, auch Karl von Kahn hat lächerliche Züge, verheiratet mit der starken Helen, Ehe-Therapeutin, "Mitglied der Kultur-Fraktion", wie Kahn es nennt. Das heißt: Interessiert an endlosen Gesprächen über nutzloses Wissen aus der Welt der Künste, bei denen am Ende keine Rendite rausspringen. Kahn hört an solchen Abenden zu und schweigt. Er "wäre froh gewesen, wenn er jedem hätte sagen können, daß es ihm auf nichts als den Gelderwerb ankomme". Geld ist sein Lebensantrieb. Der Zinseszins sein Traum vom Glück. Leider gilt das nichts in der Welt der Kulturschönredner. Geld hat man oder nicht. Geldvermehren als Selbstzweck das ist peinlich, leer und unanständig. Kein wahrer Lebensinhalt.
So ist Karl mit seinem Glück allein. Das könnte er noch ewig bleiben. Er weiß, wie die Renditen laufen und wo und wann es zuzuschlagen gilt. Walser schildert die Aktienwelt so ungeheuer routiniert, präzise, eingängig und geläufig, wie man das in einem deutschen Roman selten gelesen hat. In dieser Welt scheint der Autor zu Hause zu sein. In einem Interview mit der "Wirtschaftswoche" hat der Ex-Kommunist Walser gerade gesagt: "Konsum ist banal. Geld zu vermehren ist unvergleichlich höherwertiger als Geld zu verbrauchen. Und wenn das Vermehren einmal zur Leidenschaft geworden ist, kann man damit gar nicht mehr aufhören. Dann gehen die Zahlen über in Musik, ja sogar in Religion."
Karl von Kahn ist ein Künder dieser Religion. Ein Dagobert im Talerbad. Er ahnt den Lauf des Geldes weit voraus. Doch eines ahnt er nicht: den Lauf des Lebens. Den Fortgang des Lebens immer weiter und weiter dem Tode zu. Er ist 71, seine möglichen Nachfolger werden langsam ungeduldig. In Karl von Kahn wächst die Angst. Jeden Freitag verschickt er an seine Klienten die sogenannte "Kunden-Post", in der er "alles Wirtschaftliche ins Menschliche übersetzt". Das Alter spielt schon früh eine Rolle. Karl ist alt. Seine Kunden sind alt. Seine "Kunden-Post" ist auch eine Post gegen die Angst: "In Wirklichkeit gibt es unser Alter nicht", schreibt Kahn. "Es ist eine Mache der Alarmisten. Von meinem Alter wissen sie nichts. Für die Alarmisten sind wir Statistikfutter. Sie reden über uns, wie der Farbenblinde von der Farbe redet. Über mein Alter und dein Alter gibt es keine Auskunft. Die produzieren Horizonte aus nichts als Gefahren, um sich als Retter aufspielen zu können. Das dazu verwendete Expertenvokabular erinnert doch an die Sprache, die die Theologen aufbieten, wenn sie die Existenz Gottes beweisen wollen."
So redet Karl von Kahn sich und seinen Kunden die Angst vom Leib. In Wahrheit ist er der Theologe. Schlimmer noch: der Heilsverkünder wider besseres Wissen. "Meine Rendite schenkt Euch die Ewigkeit", lügt er. Und in ihm regiert längst die Angst. Unheilszeichen gibt es viele. Sein bester Freund simuliert eine tödliche Krankheit, nur um von Kahn eine millionenschwere Unterschrift zu erschwindeln. Der unheimliche Finanzmogul Amadeus macht immer deutlicher, daß er Karl von Kahn, den kleinen Fisch im Haifischmeer, mit einem Flossenschlag an Land und damit zu Tode schleudern könnte. Und schließlich tötet sich sein achtzig Jahre alter Bruder Erewein. Aus Liebe. Und aus Altersangst. In einem langen Abschiedsbrief schildert er ihm die zwingenden Gründe für sein Ableben, schildert die Liebe in den schönsten Farben und den Moment vor seinem Tod, als er noch einmal im Englischen Garten spazierenging, um dem Schicksal noch eine letzte Chance zu geben. Doch: "Eine Frau in meinem Alter, die gemerkt hat, was mit mir los ist, hat sich neben mich gestellt und hat, ohne mich anzuschauen, gesagt: WissenS, die Jahre vor achtzig sind die schönsten. Jetzt isses nix mehr. Der Mo tot. Hören tut man nimmer gscheit. Schlofn is a nix mehr. Aber bis achtzig ist das Leben schön." Es gibt keinen Ausweg. Und jetzt, mit achtzig, ist es für Erewein also soweit. Er beendet, was keine Freude, kein Glück und keine Liebe mehr verspricht. Und bringt sich um.
Karl von Kahn ist erschüttert. Schon früher kannte er diese dunklen Stunden. Nur selten stellten sie sich ein. In den Momenten der Einsamkeit. Den Momenten der Wahrheit. Wie herrlich kann Walser diese Momente beschreiben: "Sobald er allein war, wußte er sich oft nicht mehr zu helfen. Mutlosigkeit breitete sich aus in ihm. Die Welt war anders. Sie rächte sich dafür, daß er sie gepriesen hatte, obwohl er wußte, daß sie anders war. Wenn die Kunden ihn so erlebten, so mutlos, sie müßten ihn für einen Betrüger halten. Jeder Mensch muß jedem anderen Menschen gegenüber die Welt preisen. Sonst hört sich alles auf. Verzweifeln darf jeder für sich." Ist das nicht toll gesagt? Die Beschreibung der Welt als Zusammenkunft zwanghaft Lobender, um sich die Wahrheit nicht einzugestehen. Der Fortgang der Welt und des Lebens als eine Folge gemeinschaftlichen Lügens, Lobens und Beschönigens gegen alle Wahrheit. Um am Leben zu bleiben, weiterzugehen.
"Sehen Sie", hatte Walsers Namensvetter und Vorbild Robert seine Romanfigur Simon Tanner einst sagen lassen, "ich bin einer, der so in der Welt steht, daß er sich mit Händen und Füßen wehren muß, um aufrecht zu stehen." So wehrt sich auch Karl von Kahn. Obwohl er eigentlich ein von Natur aus Aufrechter ist. Bis ihn das drohende Alter überwältigt. Bis er auf Joni Jetter trifft. Schauspielerin, große Brüste, blondes Haar, sie soll der Lockvogel sein für ein windiges Filmteam, das dem Finanzmann zwei Millionen entlocken will. Und so verführt sie und verführt ihn, so daß Karl von Kahn vollkommen aus dem Gleichgewicht gerät. Hatte noch, nur eine Lebenssekunde zuvor, ausschließlich Geldvermehren einen Wert, so heißt es jetzt: "Es gibt nichts als den Geschlechtsverkehr. Alles andere ist Umweg, Ablenkung, Täuscherei, Betrug. Beim Geschlechtsverkehr mit dir erfahre ich, warum ich da bin."
Walser gelingen ungemein anrührende Bilder des zwischen größtem späten Lebensglück und größtem Unglück schwankenden Mannes, wie er sich panisch bemüht, bei der gemeinsamen Nacht im Bett vor der Schönen sein Krampfaderbein zu verbergen, wie ihn der Schock am nächsten Morgen fast niederstreckt, als er ihre beiden Gesichter, sein beinah totes und ihr strahlend-schönes, nebeneinander im Spiegel sieht. Schließlich verläßt sie ihn, und Karl von Kahn geht langsam unter.
Martin Walser wagt alles auf diesen letzten Seiten. Er liefert seinen Helden völlig aus. Es ist ein schmaler Grat, auf dem der Autor wandelt, zwischen größter Rührung, Mitgefühl und großer Peinlichkeit, die er beim Leser auslöst. Altmännerphantasien, ohne jede Scham. Karl von Kahn jedenfalls sieht am Ende keine Menschen mehr. Er sieht nur noch Brüste, Brüste, Brüste. Und scheint dem letzten Glück ganz nah. Die schönsten Frauen sprechen ihn auf offener Straße an und sagen: "Ich denke mit der Fotze an dich." Oder: "Ich hab noch einen Fick gut bei dir." Oder: "Ich freue mich auf einen Mund voll Schwanz" und weiter, weiter, immer so weiter.
Karl von Kahn ist wohl verrückt geworden. Seine Busenträume haben ihn final verwirrt. Die Lebensgier, die Angst vor dem Tod haben ihn Anstand und Verstand gekostet. Schamlos geht der Mensch zugrunde.
Martin Walser: "Angstblüte". Rowohlt 2006. 477 Seiten, 22,90 Euro.
SPIEGEL ONLINE hat den Text mit freundlicher Genehmigung der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" übernommen. Die von der "FAS" gepflegte alte Rechtschreibung haben wir beibehalten.