Antisemitismus-Streit Das gute Leben des Ted Honderich

Wer ist der Mann, an dem die Suhrkamp-Kultur zu zerbrechen droht? Ein Besuch beim Philosophen in Somerset.

"Kommen Sie", sagt Ted Honderich ganz am Ende des Besuchs, "Sie haben noch nicht gesehen, wo ich mein Leben verbringe." Eine schmale Treppe führt in den zweiten Stock unter das Dach, wo die Zimmer kleiner sind als unten und enger. Nur der Blick vom Balkon ist weiter, er geht über den langen grünen Garten zur Holy Trinity Church und bis zu den Hügeln, hinter denen irgendwo London liegt. "Hier ist mein Arbeitszimmer", sagt Honderich, "hier schreibe ich."

Die Berge schimmern golden im Abendlicht; sie schimmern so verheißungsvoll und trügerisch wie die Gerechtigkeit. Das Haus ist alt und aus dem hellen Stein, aus dem hier alle Häuser gebaut sind; hier in der Nähe von Bath, wo schon die Römer in den heißen Quellen badeten, hier in Somerset, wohin heute immer mehr Londoner ziehen.

Seit zwei Jahren gehört das Haus nun Ted Honderich, seit er als Philosophieprofessor am University College London emeritiert wurde. Es ist das alte Vikarshaus, in das Honderich, der Sohn strenggläubiger Mennoniten, gezogen ist. Sein Vater und sein Großvater wurden aus der Gemeinde verwiesen, als sie einmal einen anderen Gottesdienst besuchten. Die Verwandten gaben ihnen nicht einmal mehr die Hand, wenn sie sie auf der Straße trafen.

Das war in Kanada, in dem Dorf Baden in der Nähe des Ortes Kitchener, das früher Berlin hieß. Christian und Margarete Honderich waren 1825 aus Süddeutschland hierher emigriert, weil es in Kanada gutes Farmland gab und Religionsfreiheit. Ihr Nachfahre zog nach England, weil es dort gute Universitäten gab und die Professoren, bei denen er das Denken lernen wollte. In der letzte Woche nun haben sich ein paar Kreise geschlossen, überschnitten, verwirrt. "In Deutschland scheinen die Leute ja zu denken", sagt Honderich, "ich sei ein Monster."

So einfach ist es dann doch nicht. Der Fall ist schnell erzählt: In der Jubiläumsreihe "40 Jahre edition suhrkamp" erscheint Honderichs Band "Nach dem Terror. Ein Traktat", in der "Frankfurter Rundschau" stellt Micha Brumlik vom Frankfurter Fritz-Bauer-Institut für Holocaustforschung fest, daß Honderich "antisemitischen Antizionismus" verbreite, die Feuilletons kochen kurz sommerlich hoch, Jürgen Habermas verteidigt seine Empfehlung des Buches an Suhrkamp, und am Tag darauf erklärt der Verlag, daß das Buch nicht wieder aufgelegt werde. Ted Honderich wird bleiben als eine Fußnote in den Abgesängen auf die "Suhrkamp-Kultur". Wer also war Ted Honderich? Und was ist da genau passiert in diesen heißen Augusttagen?

"Bringen Sie Ihre Badehose mit", hatte er am Telefon gesagt, "dann können wir uns nach der Diskussion etwas abkühlen." Aber sind Swimmingpools nicht verbrecherisch, Herr Honderich?

Eine Sommerreise nach Venedig könne nämlich verbrecherisch sein, indirekt - so lautet die Konsequenz in einem der Argumentationsstränge von Honderichs "hemdsärmeligem Pamphlet", wie Habermas es nannte. Weil man, statt zu reisen, das Geld ja auch spenden und damit Leben in der Dritten Welt retten könnte.

"Aber ist dieser Zusammenhang nicht etwas einfach?" "Warum einfach? Er ist klar. Ich bin nun mal Philosoph, und da ist es mein Job, die Dinge klar und konsistent zu beschreiben."

Wir sitzen im Schatten an einem weißen Metalltisch. "Thank you, sweetie", sagt Honderich, als seine Frau, eine blonde Dänin mit dunkler Sonnenbrille, einen Krug mit Eiswasser auf den Tisch stellt. Honderich ist groß und grauhaarig, er trägt ein hellbeiges Hemd und eine hellgelbe Hose, seine Stimme ist tief, und auf seinem Hemd ist ein kleiner Fleck. Es geht um Wahrheit, hat er ganz am Anfang gesagt.

Honderich ist Moralphilosoph, seine Hauptthemen sind Determinismus und Freiheit. Und er hat eine Autobiographie geschrieben, die "Philosopher. A Kind of Life" heißt und schon auf Seite 28 davon erzählt, wie eines Nachmittags eine Prostituierte betrunken vor seiner Wohnungstür stand und an ihm einen Akt vollzog, der, wie Honderich sagt, "später von einem amerikanischen Präsidenten berühmt gemacht wurde".

In diesem Buch erzählt er noch viel, sehr viel von seinen Frauengeschichten, aber auch von seiner Unsicherheit, die ihn oft wütend gemacht habe, "wütend und verzweifelt über meinen Platz in der Welt, über meine Noten, meine Beine, mein Trinken". "Aber", fügt er hinzu, es sei besser, wütend zu sein als verzweifelt, "schließlich bedeutet Wut, daß man auf dem Weg ist, etwas zu tun. Ich wünschte, ich wäre immer wütend." Das Buch ist geprägt von einem gemäßigten Exhibitionismus. Wenn man Honderich zuhört, hat man den Eindruck, daß dieser Exhibitionismus auch sein Denken durchzieht; daß er die Wahrheit nackt sehen will.

Wut war auch ein Grund für sein Buch "Nach dem Terror", das, ausgehend von den Anschlägen vom 11. September, mit der Frage nach gutem und schlechtem Leben beginnt, nach langem und kurzem Leben und der Verantwortung der Wohlstandsländer für die erheblich kürzere Lebenserwartung in der Dritten Welt; und das endet in einem verhedderten Rechtfertigungsgeflecht, das uns, den Bürgern westlicher Gesellschaften, eine Mitschuld am 11. September gibt und den Palästinensern das "moralische Recht" zuerkennt, Terroranschläge gegen israelische Zivilisten zu begehen. "Waren Sie schon einmal in Israel, Herr Honderich?" "Nein", sagt er und streckt die Arme über den Kopf, wie er es so oft macht. "Ich habe auch keine palästinensischen Freunde. Dafür aber viele jüdische. Und auch einen jüdischen Schwiegersohn."

"Ihre Beschreibung des Sechstagekriegs von 1967 ist allerdings sehr einseitig antiisraelisch."
"Ich weiß nicht so viel darüber. Das muß ich aber auch nicht, ich habe schließlich die Bevölkerungszahlen."
"Sie meinen, Sie klagen die israelische Siedlungspolitik an."
"Die Palästinenser werden seit Jahren systematisch ihrer Heimat beraubt."
"Sie sind aber für den Staat Israel?"
"Ich glaube an das Existenzrecht eines jüdischen Staates. Ich habe auch den Terrorismus unterstützt, der zur Gründung Israel geführt hat. Wir Briten waren damals ja selbst betroffen."
Es waren vor allem die Passagen über Israel und die Palästinenser, die in Deutschland für Aufregung sorgten. "Als Hauptopfer von Rassismus in der Geschichte", schreibt Honderich in "Nach dem Terror", "scheinen die Juden von ihren Peinigern gelernt zu haben." Nun nennt es Honderich "dirty politics" und "dirty moral", wenn diese Stellen gegen ihn verwendet werden; das sei ein "neozionistischer Angriff" auf sein Buch. Und wenn man entgegnet, daß die Autoren in Deutschland womöglich alles andere als Neozionisten seien, wie Honderich diejenigen nennt, die die Okkupation palästinensischen Landes über die Grenzen von 1967 hinaus unterstützen, dann kümmert ihn das nicht besonders.

"Ich habe", sagt er, "an der Columbia University in New York einen Vortrag gehalten und an der Brown University, und immer wurde danach mit Toleranz und intellektuellem Respekt diskutiert, natürlich nicht immer mit Zustimmung. Nur in Deutschland gab es diesen Ärger. Es ist traurig, daß dieses Land immer noch so stark in seiner Geschichte gefangen ist." Ärger hatte Honderich allerdings auch in den USA und in Kanada. Studenten protestierten, es gab heftige Debatten, und Oxfam, die bekannte Wohltätigkeitsorganisation, weigerte sich, Honderichs Spende über 5000 Pfund anzunehmen.

Was den Fall von Ted Honderich so einfach und so kompliziert zugleich macht, das ist, daß hier ziemlich abgeschlossene und klare Denkwelten aufeinanderstoßen. Da gibt es den Professor, enttäuschtes Mitglied der Labour-Partei, der aus egalitärem Idealismus heraus den Zustand der Welt beklagt und mit seinen Gedanken die Nähe zur Tat sucht: Wenn man so will eine Art Defekt seiner Profession, die die Weite des Denkens scheinbar mühelos durchschreitet, jedenfalls ohne sich Blasen an den Füßen zu holen, und dabei mit der Realität kollidiert. "Ich bin entschlossen, die Wahrheit zu sagen, wie ich sie sehe, und zwar deutlich und mit aller Kraft. Selbst wenn ich die Konsequenzen dieser Gedanken auch kaum aushalten kann." Honderich ist kein größenwahnsinniger Clown und auch kein kalkulierender Tabubrecher; den Vorwurf des Antisemitismus nennt er grotesk, aber bei der Frage nach möglichen antisemitischen Wirkungen seiner Worte wird er kurz nachdenklich. Es geht um den Satz, daß die Palästinenser die Juden der Juden seien, wie er ihn in seinem Buch zustimmend zitiert. "Wenn dieser Satz in deutschen Ohren anders klingt, wenn er in einem antisemitischen Zusammenhang verstanden werden kann, dann tut mir das leid", sagt er. "Aber ich wollte meine Meinung eben mit allem Nachdruck sagen." Und diese Meinung ist, daß das Schicksal der Palästinenser eine der größten Ungerechtigkeiten unserer Tage sei.

Vor der Mauer stehen die Blumenbeete, um die sich Honderichs Frau Ingrid kümmert, dahinter lärmt ab und zu ein Bagger. Was sieht Ted Honderich, wenn er auf dem Balkon seines Arbeitszimmers steht und über die grünen englischen Hügel blickt?

"Der 11. September war das überwältigendste Ereignis in meinem Leben", sagt er. "Und dieses Ereignis hat eben nicht nur mit den Terroristen zu tun, sondern auch mit uns, mit unseren Taten, mit unseren Unterlassungen." "Aber ist die fast schon direkte Verbindung, die Sie beschreiben, nicht nur selbst moralisch fragwürdig, sondern auch unlogisch?"

Darauf setzt Honderich zu einer Erklärung an, bei der man an drei oder vier Punkten sagen will: Halt. Und die doch für ihn zu einem schlüssigen Ergebnis führt. Da ist jemand aus idealistischen Motiven und mit Hilfe einer abgedichteten Logik bei einer Theorie des Terrorismus angekommen, und wenn man ihn fragt, ob in utopischen Gedanken schon ein terroristisches Moment enthalten ist, dann sagt er, er verstehe die Frage nicht. "Der moralische Aspekt dieser Diskussion", sagt Honderich, "ist sicher einfacher als die tatsächlichen Konsequenzen." Seine Logik ist streng, und sie hat sicher auch etwas mit der Logik seiner Väter und Vorväter zu tun. Honderich hat eine andere Gemeinde besucht. Jetzt geht er über die Straße. Und morgen besucht ihn ein Fernsehteam aus Deutschland.

Es gibt ein neues Nachwort für die englische Taschenbuchausgabe von "Nach dem Terror", ein Postscriptum "ohne Reue", wie Honderich es nennt. Macht der Protest ihn nachdenklich, fragt er in der vorläufigen Textfassung, würde er etwas ändern? "Nie im Leben, nicht eine Silbe." Als Honderich aus seiner Denkerklause nach unten geht, dreht er sich noch einmal um und fragt, ob er einen Abschlußgedanken diktieren könne. "Es ist kein gutes Omen für die Zukunft", sagt er, "daß ein philosophisches Buch verboten wird. Die Menschen in England werden sagen, wir verstehen, daß die Deutschen ein Gefühl der Schuld prägt, aber sie haben einen weiteren Fehler gemacht. Klein, aber reell. So, und jetzt hole ich uns einen Drink."

SPIEGEL ONLINE hat den Text mit freundlicher Genehmigung der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" übernommen. Die von der "FAS" gepflegte alte Rechtschreibung haben wir beibehalten.

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