
Buch über Bärte: Haare im Gesicht
Moderne Bartkunde Schnorres, Schnäuz und Pornobalken
Der Vollbart ist als ästhetisches Männermerkmal unserer Zeit mehr als etabliert. Seit er nicht nur in New Yorker oder Berliner Künstler- und Szenekreisen als Bedeutungsträger benutzt wird, also eine Idee vom Anderssein vermitteln soll, ist er ironischerweise längst im Mainstream angekommen. Man kennt das ja: Wenn sich Identitäts- und Individualitätswünsche massenhaft auf dasselbe Accessoire berufen, wird aus der Avantgarde schnell schnöde Mode. Das war's dann mit der Distinktion - Pech gehabt, Hipster, du bist jetzt wie Kai Diekmann.
Wobei das Identifikationsmodell "Hipster" angesichts seines globalen Erfolgs per se so langweilig und inhaltsleer geworden ist, wie es der Bart an sich nie werden kann. Der milieuübergreifende Vollbartboom der Gegenwart gehört zum Revival von Gesichtsbehaarungen aller Art, das seit den Neunzigerjahren in Gang ist und in seiner postmodernen Ausprägung quasi jedes Fazialdesign gelten lässt - bis auf eines.
Und das ist das mit zweifingerbreit Bewuchs unter der Nase operierende, wie ihn vor fast einem Jahrhundert schon Schauspieler wie Oliver Hardy und Charlie Chaplin trugen, aber eben auch der schlimmste Diktator aller Zeiten, weshalb der Hitlerbart ein modisches Gehtnicht ist. Dementsprechend ist der etwas alberne "Selbstversuch mit Hitler-Bart" in dem sonst lesenswerten und von Jörg Scheller und Alexander Schwinghammer herausgegebenen Essayband "Anything Grows" der vielleicht einzig verzichtbare Text. Der Irritationsfaktor ist zu offensichtlich, der Verzicht seit 1945 sozusagen Barträson. Apropos: Wer kalauernde Wortspielereien und halbironische Feststellungen ("Das Gesicht eines Mannes ist seine Leinwand", "Je Avantgarde, desto Vollbart") mag, dürfte die der Ästhetik und der Bedeutung des Barts gewidmeten und nicht immer ernsten Texte umso mehr goutieren.
Auch an Synonymen herrscht keinerlei Mangel, weil Begriffe wie "Schnurres", "Schnäuz" und "Pornobalken" die Sache anscheinend so treffsicher benennen wie die Fachtermini "Goatee" (Grunge-Kinnbart, Frühneunziger), "Soul Patch" (Unterlippenbart, ebenfalls Frühneunziger) oder "Kaiser-Wilhelm-Bart" (nach außen gezwirbelte Rotzbremse in Richtung eines Platzes an der Sonne, Hochzeit: etwa 1888 bis 1918).
"Die Unerträglichkeit des Frauenbarts"
Ganz abgesehen von derlei althergebrachten oder verhältnismäßig neuen Wortfindungen und ihren Signifikaten in der Wirklichkeit ist eine Bart-Einordnung in kulturelle und historische Zusammenhänge keine schlechte Idee. Als semiotische Konstante trat der Bart zuletzt mit der Sängerin Conchita Wurst ins Rampenlicht. Was genderwissenschaftlich interessant ist und seinen Niederschlag in einer Abhandlung unter dem provokativen Titel "Die Unerträglichkeit des Frauenbarts" findet: Hier wird vor allem auf den heute gebotenen kosmetischen Angriff auf weibliche Haarareale im Gesicht rekurriert.
Neben diesem Sonderfall öffnen die meist originellen und interdisziplinären Beiträge verschiedene Zugänge zum Phänomen des Barts. Man lernt, dass die aktuellen und ehemaligen "Top-Schnäuzer" der deutschen Wirtschaft - Zetsche, Wiedeking, Reitzle - in ihrem Bekenntnis zum Wuchs die Magnaten und Industriekapitäne vergangener Jahrhunderte ansatzweise imitieren und damit zwar ganz oben, aber eher die Ausnahme sind. Sie huldigen einem heute zumindest in Karrierebranchen zu plumpen und überholten Männlichkeitsideal.
Außerdem entzieht sich der Bart auch in kleiner Ausdehnung dem "Transparenz- und Sichtbarkeitsgebot", wie Autor Jan Füchtjohann das nennt. Merke: Der, dem es sprießt, erinnert nach dem Gesetz des Vorurteils immer auch an Terroristen, Schurken, Zuhälter - weshalb Unternehmer und Banker in aller Regel ihre Männlichkeit bändigen. Der Glattrasierte demonstriert Ordnung und Akkuratesse - wo doch globale Geld- und Warengeschäfte schon genug wuchern. Neben den Bart-Kult gesellt sich so gerne auch die Bart-Phobie.
Reaktion auf den Feminismus
Aber warum brach gerade in den Neunziger-, den Nuller-, den Zehnerjahren das neue bärtige Zeitalter an? Warum versuchten und versuchen sich Schauspieler wie Brad Pitt oder Musiker wie Bonnie "Prince" Billie am Wuchs? Eine soziomentale Deutung verweist auf den neuen Bartfetisch als Reaktion auf den Feminismus. Wer Bart trägt, geriert sich außerdem tendenziell immer noch als Andersdenkender und Rebell, den offizielle Gebote nicht scheren - im Sinne des Wortes. Einer der kenntnisreichsten Essays belegt den Einfluss der Popmusik auf die Bartmode. Wie in anderen Style-Segmenten sind die Pioniere der Form auch hier: die Beatles.
Vermutungen, dass in Krisenzeiten Männertypen ausweislich ihrer Bärte symbolisierten, dass sie anpacken können, stehen neben Aussagen, die Grundsätzlicheres im Blick haben. Da kommt erneut der Biologe zu Wort, der dem Aufleben von Moden zum Trotz dem (Voll-)Bart keine allzu rosige Zukunft prophezeit. So plakativ müsse Männlichkeit, heißt es sinngemäß, in der zivilisierten Welt nicht mehr gezeigt werden, weil nicht mehr das Recht des Stärkeren im Balzwettbewerb siege - der Bart erhöht also längst nicht mehr den Paarungserfolg. Theoretisch in der Lage zu sein, sich einen Bart wachsen zu lassen, es dabei aber nicht zu weit zu treiben: Das könnte die Erfolgsformel sein! Laut einer englischen Studie kommt bei den Damen der ewig junge Dreitagebart immer noch am besten an.
Nur eine Überlegung spielt in diesem Kompendium keine Rolle: Diejenige nämlich, wonach in den vergangenen Jahren grundsätzlich neue Phänotypen des Männlichen entstanden sein könnten. Wo früher das Resthaar auf dem Kopf heroisch bis zum Ende getragen wurde, wird heute bei Glatzenbildung die konsequente Kopfrasur akzeptiert. Wer aber oben kahl ist, inszeniert seine Gesichtsbehaarung neu.
Bleibt nur die Frage, was zuerst da war: Bart oder Glatze.
Jörg Scheller und Alexander Schwinghammer: "Anything Grows". 15 Essays zur Geschichte, Ästhetik und Bedeutung des Bartes. Franz Steiner Verlag. 315 S., 29,90 Euro