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Kulturgeschichte der Arroganz: Eine Unzahl von Misserfolgen

Foto: Chip Somodevilla/ Getty Images

Kulturgeschichte der Arroganz Die Hochmutprobe

Von Napoleon bis Van Halen: Der Wissenschaftsjournalist Ari Turunen hat eine Kulturgeschichte der Arroganz geschrieben. Ein passables Buch, dessen größte Leistung darin besteht, diese Spitzenrezension zu ermöglichen.

Dies ist die beste Rezension, die Sie zu diesem Buch lesen werden. Sie ist besser als das Buch, von dem sie handelt.

Sie finden das arrogant? Mag sein. Aber mit meiner Arroganz bin ich in bester Gesellschaft: John Lennon hielt die Beatles für "populärer als Jesus". Der Literaturnobelpreisträger Bertrand Russell klagte, mit gewöhnlichen Menschen in "Babysprache" reden zu müssen. Und der Physiknobelpreisträger Murray Gell-Mann klang sogar noch arrogant, wenn er sich bescheiden gab: "Wenn ich weiter blicke als die anderen, so liegt das daran, dass ich von Zwergen umgeben bin".

"Überheblichkeit ist eine Eigenschaft, die von Zeit zu Zeit jeden befällt", schreibt der finnische Wissenschaftsjournalist Ari Turunen in seiner Kulturgeschichte der Arroganz. "Kann mir bitte jemand das Wasser reichen?" hat er sie betitelt - und steigt wie folgt in den Text ein: "Herzlichen Glückwunsch! Dies ist wahrscheinlich das beste Buch, das Sie je aufgeschlagen haben." Ein recht gelungener Einstieg, wie ich finde. Wobei: Ich hätte das "wahrscheinlich" gestrichen.

Größenwahnsinnige Popstars

Turunen sammelt Anekdoten über hochmütige Herrscher wie Napoleon Bonaparte, der sich angeblich fast nur mit Jasagern umgab. Über beratungsresistente Bankmanager wie Richard Fuld, den letzten Geschäftsführer der 2008 kollabierten Investmentbank Lehman Brothers, der alle Warner als Feiglinge beschimpft haben soll. Und über größenwahnsinnige Popstars wie die Hardrocker von Van Halen, die laut Turunen auf Tour darauf bestanden, in ihrer Garderobe eine Schüssel mit M&M-Dragees vorzufinden. Wobei vorher jemand die braunen Dragees aussortieren musste.

"Die Geschichte lehrt, dass Arroganz nie etwas anderes hervorgebracht hat als Kriege, Katastrophen, Hass und eine Unzahl von Misserfolgen", schreibt Turunen. Womit er sicher recht hat, wenn man diese hübsche Rezension mal außer Acht lässt.

Sie merken: Erfolg steigt zu Kopf. Was nicht nur sprichwörtlich zu verstehen ist, sondern ganz wörtlich. Wenn wir Erfolg mit etwas haben, werden die Botenstoffe Dopamin und Serotonin ausgeschüttet. Sie verringern Hemmungen, Angstgefühle und Niedergeschlagenheit. Turunen zitiert Studien, wonach die Anführer von Schimpansenhorden mehr Serotonin im Blut haben als die anderen Tiere. Besonders stark steigt ihr Serotonin-Spiegel, wenn viele der anderen sie bei ihrem Imponiergehabe beobachten.

Das Problem: Erfolg macht anfällig für Fehler. Wer zu selbstsicher ist, lebt unsicher. Untersuchungen zeigen laut Turunen, dass im Meer vor Hawaii vor allem Männer zwischen 40 und 50 ertrinken, also Menschen, die eigentlich noch recht viel Kraft haben, aber nicht mehr so viel, wie sie sich angesichts ihrer langen Surf- und Schwimmerfahrung einbilden. Ein anderes Beispiel: Als Autohersteller das Antiblockiersystem (ABS) einführten, seien die Unfallzahlen nicht etwa gesunken, sondern gestiegen.

"Harry Potter" und der Untergang Roms

Leider scheint Turunen, ein erfahrener Sachbuchautor, in eine ähnliche Falle zu tappen: Seine Kulturgeschichte der Arroganz ist nicht frei von Hybris. Es ist verwegen, in einem so kleinen Buch einen so großen Bogen schlagen zu wollen - und alles und nichts unter dem Begriff 'Arroganz' zusammenzuzwingen: die Gründe für den Untergang Roms, das Verhalten der Kolonialmacht Portugal im 16. Jahrhundert, die Zumutungen des Versailler Vertrages nach dem Ersten Weltkrieg, die Ursachen für das Unglück der Raumfähre "Challenger", die anfängliche Ignoranz der Verlage gegenüber Joanne K. Rowlings "Harry Potter"-Manuskript. Der Sachbuchautor Turunen hat den Hochmut zur steilen These.

Unterhaltsam ist sein Buch aber allemal. Hochaktuell sowieso. Der erste Grund: die Flüchtlingsdiskussion. Arroganz folge derselben Logik wie Rassismus, analysiert Turunen. Beide basierten auf geistiger Trägheit: "Die Grundeinstellung ist die Geringschätzung des anderen schon vor der ersten Begegnung."

Der zweite Grund: die Griechenlandkrise. Auch wenn die beiden Besserwisser, die Europa in den vergangenen Wochen in Atem gehalten haben, namentlich noch nicht im Buch auftauchen - ideell stehen sie drin: Wolfgang Schäuble und Yanis Varoufakis. Eine künftige Kulturgeschichte der Arroganz wird auf die Auftritte der beiden kaum verzichten können.

So, das wär's von meiner Seite. Und wenn es nach mir ginge: auch von Ihrer. Es macht einem die Leser nicht sympathischer, dass sie einem im Forum ständig widersprechen wollen.

Anmerkung der Redaktion: Es geschah das, vor dem dem Kollegen Tobias Becker grauste: Sie, die Leser, haben widersprochen. Und Sie haben recht: Serotonin und Dopamin sind nicht in Antidepressiva enthalten. Wir haben den Fehler korrigiert. Lassen Sie sich das aber bloß nicht zu Kopf steigen!

Anmerkung der Redaktion, Teil 2: Darüber, ob in der Rezension John Lennons Zitat "More popular than Jesus" als Arroganz richtig ausgedeutet wird, diskutieren wir noch.

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Ari Turunen:
Kann mir bitte jemand das Wasser reichen?
Eine kurze Geschichte der Arroganz

Aus dem Finnischen von Gabriele Schrey-Vasara

Nagel & Kimche;
208 Seiten; 19,90 Euro.

Shoplink Ari Turunen: "Kann mir bitte jemand das Wasser reichen?" 

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