Aufwachsen ohne Liebe Zuneigung? Nur vom Schäferhund

Was passiert, wenn die Liebe fehlt? Augustin Erba erzählt im breit angelegten Familienroman "Die auffällige Merkwürdigkeit des Lebens" von einer Jugend unter Extrembedingungen - und deren Nachwirkungen.

Zwei Stellen in diesem Buch sind dafür gemacht, Herzen zu brechen. Einmal steht Amadeus auf dem Pausenhof. Erster Schultag, neben ihm ein kleines Mädchen. Zweierreihe, da nimmt man sich an der Hand. Das Problem: Amadeus weiß gar nicht, wie das geht, jemanden an der Hand zu nehmen.

Die zweite Stelle ist noch ein Stück trauriger. Der Vater stirbt. Er kommt vom Gottesdienst nach Hause und klappt tot im Schlafzimmer zusammen. Die Mutter umarmt ihre Kinder - zum ersten Mal.

"Die Auffällige Merkwürdigkeit des Lebens" ist ein Familienroman, der von Extrembedingungen berichtet: Die Eltern von Amadeus haben mit ihren prekären Nachbarn in den Plattenbauten am Stockholmer Stadtrand so gar nichts gemein. Der Vater ist ein aus Ägypten ausgewanderter Atomphysiker. Die Mutter entstammt der Ahnenlinie von Erzherzog Rudolf von Österreich-Ungarn.

Buchautor Augustin Erba

Buchautor Augustin Erba

Foto: Sandra Löv.

Sie fühlt sich dem labilen Herzog, der sich 1889 in Schloss Mayerling bei Wien mit einem Kopfschuss das Leben nahm, nicht nur bluts-, sondern vor allem seelenverwandt, leidet unter starker Migräne, liegt tagelang in ihrem abgedunkelten Zimmer im Bett und hat vor allem eines: Angst. Gott, so glaubt sie, habe ihr dieses Kreuz zu tragen gegeben. Mit zwei Geschwistern muss sich der kleine Amadeus in diesem recht menschenfeindlichen Umfeld behaupten.

Auch abseits der mangelnden familiären Zuneigung scheint Amadeus' Kindheit ziemlich grausam zu sein: In der Französischen Schule, auf die die standesbewusste Mutter den Jungen schickt (und ihn rasch eine Klasse überspringen lässt, weil er hochbegabt ist), holt er sich bei seinen älteren Klassenkameraden jeden Tag eine Tracht Prügel ab, manchmal liegt auch eine Kackwurst in seinem Pult. Der familiäre Schäferhund wird, nachdem er einen Trinker anfällt und fast umbringt, in der Küche gehalten, wo er fortan auf den Boden macht, so lange, bis Kot und Urin das Linoleum weggeätzt haben und man den blanken Beton sieht.

Eine Beweisführung, eine Anklageschrift

Dass das alles für den Jungen nicht ohne seelische Schrammen ausgehen kann, ahnt man früh, denn auf einem zweiten Zeitstrahl erzählt Erba aus der Gegenwart. Amadeus ist mittlerweile ein durchaus erfolgreicher Journalist. Er lernt Petra kennen, die beiden kaufen eine Eigentumswohnung, sie bekommt zwei Kinder von ihm. Er träumt den Traum der Bürgerlichkeit. Sein größter Gegner sind seine Selbstzweifel. "Ich bin nicht geschaffen, ein normales Leben zu leben. Genau wie meine Mutter", sagt er einmal.

Die Fragen, die Erba auf 426 Seiten untersucht, sind die großen des Lebens. Was bedeutet Heimat? Können wir vor unserer eigenen Geschichte davonlaufen? Wie prägt uns unsere Kindheit? Und wie unsere Erziehung? Der Autor fügt das alles nahtlos zusammen. Gerade in der ersten Hälfte des Buchs sitzt jede Geschichte, jede Anekdote. Eigentlich erarbeitet Erba eine Beweisführung für eine Anklageschrift. Gegen die eigenen Eltern, aber auch gegen die Mitschüler, die Augustin so übel mitspielen.

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Erba, Augustin

Die auffällige Merkwürdigkeit des Lebens: Roman

Verlag: Ullstein Hardcover
Seitenzahl: 432
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Preisabfragezeitpunkt

07.06.2023 18.15 Uhr

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Was dabei bisweilen stört, ist eine gewisse Unwucht. Das, was dem jungen Amadeus passiert, wird mit Schwung erzählt, oft von Melancholie getrieben, aber auch von viel Humor. Erba arbeitet mit einer Sprache, die farbenfroh und melodisch ist und die auch grausamen Momenten mit einem distanziertem Blick begegnet, der immer das Wundersame, das Surreale einfängt.

So gelingt es ihm, dass man als Leser ab der allerersten Seite Komplize des kleinen Amadeus ist. Mit ihm leidet, doch vor allem mit ihm triumphiert, wenn er irgendwo in der Nähe des Esstisches neue Verstecke findet, in denen er die mütterlichen Ekelmahlzeiten verschwinden lassen kann, oder nach 1000 Schulhofschlägereien dank seiner Cleverness die Situation plötzlich umkehrt: ein markiger Tritt auf den eingewachsenen Zeh des Kontrahenten, zwei mühevoll erlernte Kampfsportgriffe, und es herrscht Ruhe.

Wenn Erba seinen Ich-Erzähler aus der Gegenwart berichten lässt, ist das anders. Dann landen wir in einer Geschichte, in der das Scheitern das zentrale Element ist, in der auf Fehler und Komplikationen so lange und ausführlich draufgehalten wird, bis es wehtut. Dann versickert der Humor irgendwo zwischen Selbstvorwürfen und Ängsten, wird das Buch grau. Auffällig sind nicht mehr Merkwürdigkeiten, sondern Verhaltensweisen. Die Nähe, die man zum Kind Amadeus hatte, ist plötzlich verflogen.

Augustin Erba, so steht es auf der Seite des Verlages, ist der Sohn eines ägyptischen Vaters. Seine Mutter stammt aus dem Haus Habsburg-Lothringen. Sein dritter Name ist Amadeus. Gott, lass diesen Roman nicht autobiografisch sein!

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