Auschwitz-Roman "Mischling" "Ich wollte einen hässlichen Anker für meinen Roman"

Installation "Schalechet"von Menashe Kadishman
Foto: Jüdisches Museum Berlin/ Schenkung von Dieter und Si Rosenkranz/ Foto: Jens Ziehe
Affinity Konar, Jahrgang 1978, wuchs in L.A. auf. Sie studierte Schreiben an der Columbia Universität und der San Francisco State University. "Mischling" ist ihr erster Roman.
SPIEGEL ONLINE: Frau Konar, das Holocaust-Mahnmal, das Stelenfeld hinterm Brandenburger Tor, ist hier um die Ecke. Waren Sie schon dort?
Konar: Ja - und auch im Jüdischen Museum. Auf die Installation im Erinnerungsschacht dort mit den Köpfen war ich nicht gefasst ...
SPIEGEL ONLINE: ... - die Installation "Schalechet - Gefallenes Laub" von Menashe Kadishman ...
Konar: Ich rang mit mir: Laufe ich über diese Gesichter oder nicht? Aber ich wollte mich an diesen Moment erinnern, auch darum habe ich den Boden gefilmt als ich darüber lief. Zu sehen, wie die Gesichter unter meinen Füßen ineinanderrutschen, dazu das klinkernde Geräusch, hat mich tief erschüttert.
SPIEGEL ONLINE: Der Architekt des Jüdischen Museums, Daniel Libeskind, und Peter Eisenman, der das Stelenfeld entwarf, haben Wege gefunden, ohne Worte das Unaussprechliche zu zeigen. Für Sie ist Sprache das Mittel, um das Universum um Josef Mengeles Menschenexperimente in Auschwitz zu beschreiben. Brauchen wir Fiktion, um eine Vorstellung vom Grauen zu bekommen?
Konar: Mit dieser Frage ringe ich tagtäglich. Ich möchte, dass mein Roman Lesern den Weg zu anderen Texten darüber ebnet. Alles, worauf ich hoffen kann, ist, dass er Gefühle hervorruft, die vielleicht die Tür zur Tür zur Tür zum Unaussprechlichen aufstoßen. Mir ist meine Distanz bewusst. Am liebsten hätte ich das an die Seitenränder geschrieben.
SPIEGEL ONLINE: Sie selbst kamen über Augenzeugenberichte zum Thema, die 1994 unter dem Titel "Die Zwillinge des Dr. Mengele" auch auf Deutsch erschienen. Welcher Moment ließ Sie nicht mehr los?
Konar: Ich erinnere mich genau: Ich war 16, hatte gerade das Unjüdischste überhaupt getan, nämlich die Highschool geschmissen. So saß ich an einem seltsam nebligen Tag im Frühsommer in unserem Garten mit diesem Buch. Und las von einem Jungen aus Mengeles "Zoo", der sein Taschenmesser an allem schärfte, um bereit zu sein für Rache. Das erschütterte mich: Niemand sollte diese rebellische Kraft in sich entdecken müssen. Erst jetzt beginne ich zu verstehen, wie seltsam es ist, dass ein Teenager in L.A. sich so intensiv mit einem Teil der Geschichte auseinandersetzt, der sich in vielerlei Hinsicht so weit weg abspielte.
SPIEGEL ONLINE: Auch die Zwillingsschwestern Perle und Stasia im Zentrum Ihres Romans sind Teenager. Was erlaubte Ihnen das erzählerisch, was sonst nicht möglich gewesen wäre?
Konar: Es ist schwer, als Autorin eine so junge Stimme anzunehmen, ohne sich als Schummler zu fühlen. Während ich das Buch schrieb, verdiente ich mein Geld damit, Unterrichtsmaterial für diese Altersgruppe zu konzipieren, war daher nah dran. Mich hat dieses Alter interessiert, weil es meinen Figuren ein Hin und Her erlaubte, um zu überleben: Mit 13 können sie sich noch leicht in die Phantasie zurückziehen - und dennoch schon der Gegenwart direkt ins Auge sehen.
SPIEGEL ONLINE: Dieses Dazwischensein spiegelt sich auch in Ihrem Titel "Mischling". Das ist auch der Originaltitel - wieso?
Konar: In den letzten Tagen hier lernte ich mehr über die Konnotationen im Deutschen. Ich begreife die Komplexität, der Verlag überlegte, ob es sinnvoll ist, den Begriff für den deutschen Titel beizubehalten. Aber wie stark der Bezug zur Tierwelt ist, war mir bis jetzt nicht bewusst - für mich hat das Wort vor allem mit Blut zu tun.
Preisabfragezeitpunkt
02.06.2023 22.04 Uhr
Keine Gewähr
SPIEGEL ONLINE: Eben gemäß der Logik des Nationalsozialismus.
Konar: Das wusste ich übrigens nicht, als mir der Begriff erstmals unterkam, lange bevor ich "Die Zwillinge des Dr. Mengele" las. Als Kind war ich süchtig nach Wörterbüchern, spürte dem Sound von Worten nach, um sie richtig auszusprechen. Und "Mischling" klang für mich so zart wie ein Löffel, der sanft an ein Glas schlägt, nach einer Ballerina in einer Musiktruhe. Als ich verstand, was es eigentlich bedeutet, überwältigte mich das. Diese Dualität wollte ich bewahren. Ich wollte einen hässlichen Anker für meinen Roman, er bezeugt meine Intention: das Grauen zu porträtieren.
SPIEGEL ONLINE: In dem Begriff spiegeln sich auch gegenwärtige Debatten, ob manche Menschenleben mehr wert sind als andere. Wie wichtig ist Ihnen dieser aktuelle Bezug?
Konar: Gerade wegen allem, was derzeit in den USA passiert, war ich mir so sicher mit dem Titel. Sprache ist das allererste Werkzeug, um Menschen zu entmenschlichen. Es kann ganz unauffällig anfangen. Diesen Mechanismus wollte ich zeigen.
SPIEGEL ONLINE: Die Kraft der Sprache nutzen in Ihrem Roman alle Figuren, um eine alternative Realität zu schaffen: Präparierte Augen werden zu Käfern umgedeutet, Mord an Babys war nur ein missglückter Kaiserschnitt. Wieso erlaubten Sie das allen Figuren?
Konar: Weil am Ende alle mit sich leben können müssen. Im Fall von Mengele drückt sich das allerdings im Missbrauch von Macht aus, für die anderen ist dieser Phantasieraum alles, was sie noch kontrollieren können. Ihnen blieb nur das Geschichtenerzählen.

Josef Mengele
Foto: Keystone/ Getty ImagesSPIEGEL ONLINE: Wie reagierte Ihre Familie auf Ihr Buch?
Konar: Oh, sie waren total geschockt. Sie hörten nicht auf zu weinen. Sie wussten die ganzen zehn Jahre nicht, worüber ich schrieb. Nur welche Bücher ich las, weil sie mir hin und wieder welche aus der Bücherei mitbrachten. Wenn Sie mit jemandem leben, der sich für viele Jahre in seinem Zimmer einschließt, kennen Sie ihn irgendwann nicht mehr gut. Das Buch ließ sie endlich verstehen.
SPIEGEL ONLINE: Half Ihnen das Erzählen, Unausgesprochenes Ihrer Familiengeschichte zu adressieren?
Konar: Es ist eine bizarre Schuld, mit dem Wissen aufzuwachsen, was meine Vorfahren in meinem Alter erleben mussten. Mein Großvater war ein liebevoller Mann, ein Spaßvogel. Wenn College-Kids in der Nachbarschaft eine Party hatten, feierte er spontan mit. Ich verstand erst spät, dass er wie alle, die im Zweiten Weltkrieg dienten, eine posttraumatische Belastungsstörung hatte, er war zu jung gewesen für das, was er erlebte. Im Sommer, wenn er Badehosen trug, fragte ich ihn nach seinen Narben - und er machte nur Witze. Und dann entdeckte ich alte Fotos, auf denen er umgeben ist von Totenschädeln. Wegen des Romans reiste unsere Familie nach Polen. Niemand war seit dem Krieg dort gewesen. Zusammen in Auschwitz, Krakau und Warschau zu sein, hätte ich nie für möglich gehalten. Es hat unser Familienleben verändert.
SPIEGEL ONLINE: Sprachen Sie auch mit Überlebenden über Ihren Roman?
Konar: Ja. Mich hat beruhigt, dass es jetzt okay ist, sich dem Thema vorsichtig über Fiktionen zu nähern. Vor zehn Jahren wären sie nicht damit einverstanden gewesen. Auch ihre Kinder kamen auf mich zu: Sie haben das Trauma geerbt - und wollen die Erinnerung wachhalten. Ich erzähle diese Geschichte, um den Überlebenden Tribut zu zollen. Ohne sie gäbe es den Roman nicht.