Autor Patrick Modiano Suche nach der verlorenen Zeit
"Ich rechnete oft damit, dass die Menschen, die ich kennen lernte, von einem Augenblick auf den anderen verschwanden, ohne je wieder von sich hören zu lassen", heißt es in einem der Romane des französischen Schriftstellers Patrick Modiano. Tatsächlich verhandeln nahezu sämtliche Bücher des 1945 in dem Pariser Vorort Boulogne-Billancourt geborenen Autors das Verschwinden. Auslöser dieser raffiniert inszenierten Abwesenheiten sind zunächst unspektakulär erscheinende Gegenstände und Details: ein scheinbar achtlos zurückgelassener Koffer, eine Handvoll rätselhafter Schwarzweiß-Fotos. An ihnen entzündet sich Modianos in die Vergangenheit zurück drängendes Erzählen.
In Frankreich zählt der medienscheue, 1988 mit den Prix Goncourt geehrte Schriftsteller längst zu den Großen der literarischen Szene; hierzulande gilt es, den Schöpfer von nunmehr einem guten Dutzend Romanen noch zu entdecken. Denn obwohl es über die Jahre nicht an emphatischen Hinweisen auf den geheimnisvollen Reiz der seit 1969 kontinuierlich erschienenen Modiano-Werke gefehlt hat - der Franzose ist hierzulande bis heute ein Geheimtipp.
Zwar hatte Modianos Landsmann Patrice Leconte 1994 den Roman "Villa Triste" vor der Kulisse des Genfer Sees in magische Filmbilder übersetzt - der Name seines Schöpfers aber wurde dadurch nicht eine Spur bekannter. Dabei repräsentiert der Autor, den Peter Handke mit der Übertragung des Romans "Eine Jugend" 1975 für die deutschen Leser entdeckte, den Spuren- und Fährtenleger unter Frankreichs literarischen Hochkarätern.
Es sind die nur scheinbar vom Zufall gestifteten Anlässe, die Modianos faszinierende Erzählmaschine in Gang setzen: die offenbar achtlos zurückgelassene Kamera des Fotografen Jansen in dem Roman "Ein so junger Hund" (2000), der Korb mit Früchten in der Beschwörung "Im Vorraum der Kindheit" (1992) oder die Annonce, in der es in dem Roman "Dora Bruder" von 1998 lakonisch heißt: "Gesucht wird ein junges Mädchen. Dora Bruder, 15 Jahre, ovales Gesicht."
Knappe, auf den ersten Blick belanglos erscheinende Indizien und Hinweise, von denen ausgehend der Autor ein hauchzartes Netz aus Bildern, Ahnungen und Assoziationen knüpft, um den Leser in sein ureigenes Traum-Paris zu entführen: eine mitternächtliche, an die Filme Jean-Pierre Melvilles erinnernde Stadtbühne in magischem Schwarzweiß, die bevölkert ist von versprengten Sinn- und Glückssuchern, melancholischen Liebespaaren und larmoyanten Träumern.
Sie alle finden sich in ein Klima der Unsicherheit, des Rätsels und des Ungefähren versetzt, wobei uns ihr Schöpfer regelmäßig zu staunenden Zeugen ihrer tastenden, nicht selten Jahrzehnte weit zurück reichenden Versuche macht, Licht ins Dunkel dieser oder jener Angelegenheit zu bringen.
Auch sein neuer Roman "Unfall in der Nacht" entführt den Leser zurück ins Paris der frühen fünfziger Jahre. Entfaltet wird die Geschichte eines namenlosen Ich-Erzählers, der "spät in der Nacht, vor sehr langer Zeit, kurz bevor ich volljährig wurde", die Place des Pyramides in Richtung Concorde überquert, als ihn ein Wagen erfasst und zu Boden schleudert: "Ich war auf das Trottoir gestürzt (...) Die Tür ging auf, und eine Frau stieg schwankend aus."
Was folgt, ist der fieberhafte Versuch des Protagonisten, sich, nachdem er Tage später benommen in einem Krankenhausbett erwacht, an die Ereignisse jener Nacht zu erinnern. Wer ist die geheimnisvolle Frau namens Jacqueline Beausergant, die ihn mit ihrem wassergrünen Fiat erfasste und anschliessend im Foyer eines nahen Hotels, wo sie gemeinsam auf das Eintreffen des Krankenwagens warteten, eine Zeitlang seine Hand hielt, ehe sie verschwand? Wer jener Mann, der ihn Tage später im Krankenhaus aufsucht, eine Schulderklärung unterzeichnen lässt und ihm dafür im Gegenzug ein Bündel Geldscheine überreicht? Fragen, aus denen Modianos feiner Roman seine Spannung bezieht.
"Ich bin für die Geheimnisse von Paris immer sehr empfänglich gewesen", lässt er sein über die nächtlichen Boulevards treibendes Alter Ego an einer Stelle des Romans sagen. Und so geleitet er den Leser in immer neue, abseitige Winkel der Stadt, an verborgene, geheimnisumwitterte Plätze. Die topographische Erkundung wird dabei zur Suche nach der verlorenen Zeit. Seit Jahren variiert Modiano die immer gleiche Idee: dass die Wiederholung des Verpassten oder Vergangenen sehr wohl möglich ist. Die Wiederholung der Liebe, des Lebens und des Kindheitsglücks - und sei es auch nur in Worten geträumt.
Einen solchen Traum beschert uns auch dieses Buch, und wenn es dem Helden am Ende gelingt, die geheimnisvolle Jacqueline Beausergant aufzuspüren, mündet die Geschichte sogar in eine Art Happy End. Schließlich erleben wir den Beginn einer zart anhebenden Liebesgeschichte zwischen der Gesuchten und Modianos glücklich zur Ruhe gekommenem Erzähler: "'Ich glaube, dass Sie etwas vor mir verbergen`. Sie schwieg. Dann sagte sie plötzlich: 'Nein, ich habe nichts zu verbergen (...) Ihre Hand legte sich auf meine Schultern, und sie flüsterte mir ein Wort ins Ohr. Die Treppenbeleuchtung erlosch, über uns war nur noch der Schimmer des Mondlichts."
Patrick Modiano: "Unfall in der Nacht". Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Carl Hanser Verlag, München 2006. 144 Seiten, 15,90 Euro