Autorin Jenny Erpenbeck In der Verjüngungsmaschine

Jenny Erpenbeck, 37, ist die große Poetin unter den jüngeren deutschen Schriftstellerinnen. Im Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" sprach sie über ihren neuen Roman "Wörterbuch", ihre Schriftstellerfamilie, das Mutterglück und die Schrecken der Erziehung

Schon Ihr erstes Buch kreiste um das Thema Kindheit - auch im "Wörterbuch" geht es um Kinder.

Erpenbeck:

Beim nächsten Buch höre ich damit auf.

Was hat Sie noch mal daran gereizt?

Erpenbeck: Vielleicht, weil die Leute heute so spät erwachsen werden und ich mit siebenunddreißig denke, ich sei gerade erst achtzehn. Es geht in dem Buch aber weniger um Kinder als um das, was Erwachsene aus Kindern machen, um die Katastrophe, die in jedem Kaspar-Hauser-Lebenslauf liegt, um die verschenkten Möglichkeiten.

Um die Macht der Eltern also?

Erpenbeck: Genau. Als ich meinen neugeborenen Sohn aus dem Krankenhaus mitnahm, dachte ich: "Was? Die geben einem da so ein Kind mit nach Hause!" Und ich kann jetzt mit dem alles machen; ich könnte es sogar aus dem Fenster schmeißen! Diese Macht ist ungeheuerlich, der muß man erst mal gewachsen sein. Und leider gibt es viele Leute, die mit dieser Macht nicht umgehen können oder diese Macht mißbrauchen.

Im "Wörterbuch" stellen Sie auch die Frage nach Schuld und Unschuld der Eltern.

Erpenbeck: Ja. Was mich beschäftigt, ist, daß man Kindern irgendwann die Welt erklären muß. Irgendwann kommt der Moment, da erfahren Kinder, die noch nichts Schlimmes erlebt haben, alles über Konzentrationslager, Folter und Krieg und vielleicht, wie im "Wörterbuch", auch etwas über Schuld und Verstrickung ihrer Eltern.

Wie erklären Sie Ihrem zweieinhalbjährigen Sohn Franz die Welt?

Erpenbeck: Er ist ja zum Glück noch klein. Ich glaube, daß ein Kind am besten gedeiht, wenn es Spaß am Leben hat. Ich mach' sehr viel Blödsinn mit ihm. Es geht mir nicht darum, irgendwelche Prinzipien zu verfechten, und erziehen kann ich ihn auch durch Tricks und auf Umwegen. Er hat schon jetzt durchaus Sinn für Ironie. Franz ist das Beste, was mir in meinem Leben passiert ist.

Besser als Ihre Bücher?

Erpenbeck: Sie haben keine Kinder, oder?

Nein.

Erpenbeck: So ein Kind ist schon was Grundsätzliches. Leute, die wegen ihrer Karriere darauf verzichten, kann ich nicht verstehen. Es gibt nichts Schöneres. Das ist so ein tierisches Glück, so mit dem Körper und dem Kopf zusammen. Klar freue ich mich über meine Bücher. Schreiben ist eine wunderbare Arbeit, und es ist auch erfreulich, wenn andere meine Geschichten gern lesen. Aber mit einem Kind, das ist so, als ob man die ganze Zeit total verknallt wär' - noch dazu ohne in irgendeinem blöden Beziehungskram drinzuhängen.

"Wörterbuch" spielt an einem Ort, an dem das ganze Jahr über die Sonne scheint. Aber es ist kein Paradies, sondern ein totalitärer Sonnenstaat. Eltern verschwinden, werden gefoltert und ermordet. Sie wirken so sanftmütig und zurückhaltend und haben so eine abgründige Horrorgeschichte geschrieben. Wie kommt das?

Erpenbeck: Jeder Mensch hat ja verschiedene Seiten. Schon als Kind hatte ich das Gefühl, daß es nicht selbstverständlich ist, daß es mir so gutgeht. Es ist Zufall, in was für eine Familie man hineingeboren wird und in welchem Teil der Welt man leben darf. Das beschäftigt mich.

Woher kommt aber diese starke literarische Auseinandersetzung mit Diktaturen?

Erpenbeck: Es geht in meinen Geschichten ja häufig um Erziehung, um Ordnungssysteme. "Wörterbuch" basiert auf einem authentischen Fall, den es während der Militärdiktatur in Argentinien gegeben hat - ein Mädchen, das von den Mördern seiner Eltern als eigenes Kind aufgezogen wurde. Erziehung ist ja auch eine Art Diktatur. Das Mädchen in meiner Geschichte ist vor allem Objekt. Es wird aus dem Zusammenhang gelöst und verwendet. Die Biographie, die das Mädchen bekommt, ist künstlich, aber es hat keine andere. Mich hat interessiert, warum sich meine Hauptfigur später, als erwachsene Frau, nach dem Ende der Diktatur, für ihre falschen Eltern entscheidet. Es hat mich interessiert und gleichzeitig erschreckt.

Sie waren erschreckt von Ihrem eigenen Buch?

Erpenbeck: Von der Geschichte, die ich da geschrieben habe, und von der Literatur, die ich deshalb lesen mußte.

Was war der Auslöser für die Geschichte?

Erpenbeck: Die Geschichte hat sich seit der Geburt meines Sohnes zum Thema ausgewachsen. Die Kindheit ist einmalig. Man kann sich keine andere kaufen. Das Kind in meinem neuen Buch verliert seine echten Eltern und damit Heimat und Identität. Nachträglich kann man das nicht ersetzen.

Den Kindern in "Wörterbuch" wird eine heile Welt vorgespielt, ihnen wird erzählt, Vater und Mutter seien nicht verschleppt worden im Urlaub. Geht es also auch darum, welche Wörter weitergegeben werden?

Erpenbeck: Ich bin immer noch erstaunt, daß ich jetzt einem Kind die Sprache beibringe. Aus dieser Überlegung heraus habe ich die Konstruktion für das Buch entwickelt. Ich weiß ja viel mehr als Franz. Ich weiß, daß ein Stuhl auch ein elektrischer Stuhl sein kann. Ich kenne alle möglichen Bedeutungen von Wörtern, er nicht, und natürlich sage ich ihm nicht alles. Je länger so ein Kind lebt, desto mehr Körper bekommen die Wörter, die es beherrscht.

Das klingt, als ob Franz eine Art Buch für Sie wäre.

Erpenbeck: Nicht direkt. Es ist aber schon so, daß die Wörter in ihm weiterwachsen.

Sollte er auch eines Tages Bücher schreiben, wäre er ein richtiger Erpenbeck. Sie stammen aus einer Schriftstellerfamilie. Die Großmutter in der Erzählung "Tand" hat auffallende Ähnlichkeit mit Ihrer Großmutter, der Autorin Hedda Zinner. Am Ende heißt es: "Sie ist schon eingeschlafen, aber ihre Arme streckt sie noch immer nach mir aus, bis über den Schlaf hinaus ragen sie mir hinterher." Fällt es Ihnen schwer, sich von Ihrer Familie zu lösen?

Erpenbeck: Das will ich gar nicht. Auch in der Geschichte ist diese Szene ja positiv gemeint. In diesem Sinn habe ich schon das Gefühl, daß sich meine Familie in andauernder Umarmung mit mir befindet. Ich bin glücklich darüber, daß ich eine gute Familie habe. Ich bin immer unterstützt worden, aber trotzdem frei geblieben.

Als Autorin haben Sie eine familiäre Tradition fortgesetzt.

Erpenbeck: Ich würde eher sagen: Die Tradition hat mich fortgesetzt. Ich habe ein paar Winkelzüge versucht, um meinem Schicksal Paroli zu bieten. Jeder will ja originell sein, und weil bei uns alle geschrieben haben, dachte ich, ich male oder werde Bühnenbildnerin.

Nach einer Buchbinderlehre haben Sie dann aber doch angefangen zu schreiben. Wie haben Ihre Eltern auf Ihre schriftstellerischen Ambitionen reagiert?

Erpenbeck: Meine Eltern waren stolz auf mich, haben aber immer gesagt, ich solle auf jeden Fall etwas anderes lernen, damit das Schreiben frei bleibt von kommerziellen Erwägungen und ich nicht gezwungen bin, davon zu leben.

Ihr Vater, der Autor John Erpenbeck, ist gelernter Physiker und Psychologe. Bei aller Liebe zur Kunst scheint es in Ihrer Familie doch einen Hang zu finanzieller Sicherheit zu geben.

Erpenbeck: Ich hätte selbst nie gedacht, daß das Schreiben eines Tages mein Hauptberuf werden würde. Erstaunlicherweise kann ich davon leben, obwohl ich so schreibe, wie ich will. Und das ist für mich ein sehr glücklicher Umstand.

Bei soviel schreibenden Vorfahren - gibt es da so etwas wie innerfamiliäre Konkurrenz?

Erpenbeck: Wir schreiben total unterschiedlich. Keiner kann den anderen ersetzen. Jeder hat etwas Eigenes geschaffen. Das ist anders, als wenn man ein Bäckerhandwerk erlernt und ein Rezept oder Geschäft von den Eltern übernimmt.

Für die "Geschichte vom alten Kind" haben Sie dann aber auch selbst recherchiert - Sie haben sich mit siebenundzwanzig als Siebzehnjährige ausgegeben und sich noch einmal in eine elfte Klasse einschulen lassen.

Erpenbeck: Ich wollte genaueres Material für mein Buch finden, wollte wissen, wie es ist, sich jungzustellen. In dieser zweiten Schulzeit sind mir Sachen aufgefallen, die ich mir am Schreibtisch nicht hätte ausdenken können. Zum Beispiel habe ich gemerkt, daß meine Schrift älter war als die meiner Mitschüler und daß man in so einer Situation - inkognito - völlig frei ist. Ich konnte schlechte Zensuren bekommen, mich danebenbenehmen - und das machte überhaupt nichts.

Warum haben Sie das Experiment nach vier Wochen abgebrochen?

Erpenbeck: Es war nicht länger geplant. Ich wollte daraus keine Wallraff-Geschichte machen. Die vier Wochen waren anstrengend genug. Ich hab' mich beim Autofahren immer panisch umgeschaut, weil ich Angst hatte, meine Mitschüler könnten mich sehen.

Galten Sie als Besserwisserin?

Erpenbeck: Manchmal schon. Die haben mich, wenn ich diskutieren wollte, ganz verwundert angeschaut und gefragt: Du interessierst dich doch nicht ernsthaft für die Schule, oder? Da habe ich mich ein bißchen zurückgenommen.

Mußten Sie sich auch in anderer Hinsicht verstellen?

Erpenbeck: Eigentlich nicht. Vielleicht, was die Kleidung angeht: Die Mädchen waren ganz einfach angezogen, keine Schminke, nur Turnschuhe, Pullover und Jeans; daran habe ich mich orientiert.

Zweifeln Sie manchmal an sich?

Erpenbeck: Klar. Und ich halte das Schreiben für ein Geschenk, sag' ich jetzt mal blöd, für das ich nicht unbedingt was kann, das mir auch wieder genommen werden könnte. In diesem Fall würde ich noch mal was ganz anderes machen.

Was zum Beispiel?

Erpenbeck: Nach Afrika gehen und gute Werke tun. Das klingt jetzt komisch, ist aber ernst gemeint.

Nach Afrika?

Erpenbeck: Vielleicht auch nur zwei Straßen weiter, das Leben hier ist für viele Leute ja auch nicht leicht. Aber Christoph Nix zum Beispiel, der Ex-Intendant des Kasseler Staatstheaters, ist nach Uganda gegangen und hat dort mit inhaftierten Jugendlichen Theaterstücke aufgeführt und dafür gesorgt, daß die Strafgefangenen nicht mehr in asbestverseuchten Zellen eingesperrt sind. Ich hör' mich jetzt wahrscheinlich an wie Mutter Theresa, meine aber eigentlich nur: Es gibt sehr viele Sachen, die man machen kann, bevor man ein sinnloses intellektuelles Dasein führt.

Haben Sie denn manchmal das Gefühl, ein sinnloses Dasein zu führen?

Erpenbeck: Solange ich mit dem Schreiben etwas ausrichten kann, nicht. Auch wenn die Arbeit, von außen betrachtet, absurd aussehen mag: Die Hauptarbeit beim Schreiben ist ja das Denken. Und ich denke erst, wenn ich am Schreibtisch sitze, mache mir vorher keinen Plan. Was dazu führt, daß ich oft tagelang zu Hause sitze und nur nachdenke, ohne ein Wort zu schreiben, während meine gutbezahlte Kinderfrau mein Kind durch die Gegend schiebt.

Das Interview führte Jan Brandt


Jenny Erpenbeck: "Wörterbuch". Roman. Eichborn-Verlag Berlin 2005, 120 Seiten, 14,90 Euro

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