Autorin Siri Hustvedt "Ich benutze mich selbst"
SPIEGEL ONLINE: Wussten Sie, dass Sie eine Menge mit Woody Allen gemeinsam haben?
Hustvedt: Tatsächlich? (lacht)
SPIEGEL ONLINE: So wie seine Filme sind Ihre Romane in Europa populärer als in den USA. Ihr neues Buch "Die Leiden eines Amerikaners" ist sogar zuerst in Deutschland erschienen.
Hustvedt: Es stimmt, es gibt eine ganze Reihe von amerikanischen Künstlern, die in Europa mehr Erfolg haben. Wie ein Buch aufgenommen wird, darüber hat man als Schriftsteller leider keine Kontrolle. Mein Roman ist inzwischen auch in den USA herausgekommen, und es scheint, als würde er gute Kritiken bekommen. Ich werde in meinem Land also nicht komplett ignoriert.
SPIEGEL ONLINE: Der Roman erzählt von den Nöten eines geschiedenen, einsamen Psychoanalytikers, der den Tod seines Vaters betrauert. Es ist vor allem ein innerliches Buch. Gleichzeitig ist es sehr politisch. Sie entwerfen unterschwellig ein Psychogramm amerikanischen Lebens unter der Bush-Regierung.
Hustvedt: Es gibt eine ganze Anzahl äußerer Geschehnisse, die in unserer Psyche fortwirken. Da ist die Große Depression, der Zweite Weltkrieg, der 11. September, die Invasion im Irak 2003, das sind alles Ereignisse, die die Menschen nachhaltig beeinflusst haben.
SPIEGEL ONLINE: Welche Auswirkungen hat denn der Irakkrieg konkret für Sie und Ihre Freunde in New York City?
Hustvedt: Ich kenne niemanden, der Bush gewählt hat. Ist das nicht komisch? Ich kenne auch niemanden, der den Irakkrieg unterstützt hat. Meine Familie und alle meine Freunde waren von Anfang an total dagegen. Trotzdem hallt er nach. Denn die Rechtfertigung für die Invasion im Irak war das Attentat vom 11. September. Das ist erschreckend, denn sofort nach diesem Attentat haben die Leute als Zeichen ihrer Solidarität amerikanische Flaggen rausgehängt. Doch sie wurden betrogen, denn die Fahnen wurden schnell zum Zeichen eines höllischen Krieges und haben ihre ursprüngliche Bedeutung verloren.
SPIEGEL ONLINE: Wird die Bush-Regierung traumatische Spuren hinterlassen?
Hustvedt: Wenn man an all die psychischen Verletzungen denkt, sicherlich. Es geht ja nicht nur um die Soldaten, sondern um die Zivilbevölkerung. Für ein Trauma genügt es oft, das Unerträgliche zu sehen, man muss gar nicht selber in Gefahr sein.
SPIEGEL ONLINE: In Ihrem Roman sind Menschen unterschiedlicher Generationen Trauma-Opfer. Sind Traumata vererbbar?
Hustvedt: Die Art und Weise, wie traumatische Erinnerungen vom Gehirn gespeichert werden ist ganz anders als bei normalen autobiografischen Erinnerungen. Sie können Schäden im Gehirn hinterlassen, das ist neurobiologisch bewiesen. Tatsächlich können Traumata von einer Generation an die nächste weitergegeben werden.
SPIEGEL ONLINE: Sie haben Tagebuchaufzeichnungen Ihres Vaters von der amerikanischen Pazifikfront während des Zweiten Weltkrieges in das Buch eingearbeitet. Was gab dazu den Anstoß?
Hustvedt: Als mir klar wurde, dass mein Vater sterben würde, wollte ich etwas von ihm in der Welt bewahren. Der andere Grund ist ein Bild, das ich immer wieder vor Augen hatte: In einem kleinen Wohnzimmer, das dem meiner Großeltern sehr ähnlich ist, steht ein offener Sarg auf dem Tisch. Darin sitzt ein Mädchen, das sich unaufhörlich vor- und zurück wiegt.
SPIEGEL ONLINE: Eine gruselige Vorstellung
Hustvedt: Es gibt viele Geschichten aus dem 19. Jahrhundert über Menschen, die lebendig begraben wurden, und ich wollte etwas Ähnliches schreiben. Später habe ich festgestellt, dass das Thema des Romans nicht der Tod, sondern die Auferstehung ist. Nicht auf religiöse oder übernatürliche Weise, eher als eine Art Reinkarnation.
SPIEGEL ONLINE: Das haben Sie erst bemerkt, nachdem das Buch fertig war? So einen 400-Seiten-Roman schreiben Sie also aus Ihrem Unterbewusstsein heraus?
Hustvedt: Das war kein kalkulierter Prozess, das ist mir einfach so passiert. Das hatte tatsächlich viel mit meinem Unterbewusstsein zu tun. Ich habe zum Beispiel auch erst viel später Texte des islamischem Mystikers Rumi gelesen, von dem ich dann ein Zitat übernommen habe, das ich dem Buch vorangestellt habe: 'Wende dich nicht ab. Schau weiter auf die bandagierte Stelle. Dort wird das Licht in dich eindringen.' Als ich das las, dachte ich: 'Gott, das entspricht genau dem Buch!' Erst die Auseinandersetzung mit der Wunde macht die Wende möglich. Das atmet durch den gesamten Roman.
SPIEGEL ONLINE: In gewisser Weise hat das Buch ein Happy End.
Hustvedt: So kann man es sehen. Es gibt Niederlagen und Erfolge, und am Ende steht eine Art Transzendenz. Der Ich-Erzähler Erik wird aus seiner Einsamkeit und Isolation gehoben.
SPIEGEL ONLINE: Und er kann die Vergangenheit endlich loslassen...
Hustvedt: Das ist fast schon buddhistisch. Es ist auch eine psychologische Wende, denn Erik versteht, dass die psychischen Grundmuster seines Vaters auch in ihm drin sind. Erst dann kann er sie akzeptieren und loslassen
SPIEGEL ONLINE: Sie bauen im Laufe des Romans eine sehr subtile Spannung auf, die Auflösung ist aber eher banal. Ist das ein Trick?
Hustvedt: Das ist genau der Punkt des Buches. Keiner der Handlungsstränge enthüllt, worum es wirklich geht. Es gibt diese ganzen Geheimnisse, aber die meisten bleiben unbeantwortet. Da sind zum Beispiel Briefe, die immer wieder auftauchen, das ist wie in einem Krimi, zum Finale treffen sich alle Beteiligten, es gibt einen Showdown, aber dann passiert gar nichts. Das Ganze ist zwar berührend und verwirrend, weil diese Briefe zum Fetisch werden, aber tatsächlich sind sie komplett unwichtig. Diese Geschichten sind Kommentare über das Erzählen an sich. Die Enttäuschung soll den Leser dazu bringen, woanders hinzuschauen.
SPIEGEL ONLINE: Es entsteht eine Leerstelle
Hustvedt: Genau. Wir alle lieben Geheimnisse und Enthüllungen, aber genau die will ich nicht liefern. Denn es sind oft die anderen Geschichten dich weiterbringen, als die, von denen du es erwartest. Lebensgeschichten sind nie fixiert, sie schreiben sich immer neu.
SPIEGEL ONLINE: Sie selbst geben in Ihren Romanen und Essays viel preis über sich selbst, Ihre Krankheiten, Ängste, Sehnsüchte, den Alltag. Warum entblößen Sie sich derart?
Hustvedt: Ich benutze mich selbst, weil ich glaube, dass Erfahrung nur in der ersten Person zu machen ist. Ich würde nie in der dritten Person schreiben, als Außenseiterin, das ist für mich eine falsche Perspektive. Dabei interessiert mich Bekenntnis-Literatur überhaupt nicht, auch wenn ich manchmal über ziemlich persönliche Dinge schreibe. Das steht immer im Dienst von etwas Größerem, es hat nie allein mit mir zu tun.
Das Interview führte Jenny Hoch
Siri Hustvedt: "Die Leiden eines Amerikaners". Rowohlt Verlag, 416 Seiten, 19,90 Euro