
Look der Gegenwart: "Beine, Beine, Beine"
Mode und die Moderne Die Leggingsfrau als Sonnenkönigin
Ginge es nach Barbara Vinken, dürften Kleider häufiger zwicken. Für Cordhosen, Pullis und Baumwollsakkos - die Berufsbekleidung ihrer männlichen Kollegen - hat die Münchner Literaturwissenschaftlerin nicht viel übrig. "Nicht um zu gefallen, sondern um sich optimal bewegen zu können, zieht man sich an", schreibt sie bedauernd. "Die Umwelt wird nicht mehr als Bühne oder Salon begriffen, wo man erscheint und spielen kann, sondern als Parcours, den es zu bewältigen gilt."
Seit der französischen Revolution, so ihre Theorie, habe Kleidung praktisch und unsexy zu sein, zumindest die Männerkleidung. "Angezogen", ihr vielbeachtetes und kürzlich für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiertes Essay liest sich stellenweise wie ein Plädoyer für unbequeme Klamotten. Dass Vinken damit auch die Träger der von ihr kritisierten Kleidungsstücke zu ihren Lesungen lockt, spricht für ihr Buch.
"Angezogen" beginnt dort, wo der Blick der Theoretikerin auf die Welt trifft: am Fenster ihres Hotelzimmers. Eines Morgens blickt Vinken auf die Passanten, die über den Washington Square in Manhattan eilen, und sieht: "Beine, Beine, Beine." Eine neue Silhouette macht sie aus, einen Look, der sich in den vergangenen zehn, zwanzig Jahren durchgesetzt habe und dessen wichtigster Bestandteil die Beine seien. "Lang, sehr lang, oft bis zum Schritt sichtbar. Beine in Leggings oder engen Hosen. Beine mit blickdichten Strümpfen in Shorts."
Diese Beine sind Frauenbeine, doch Vinken, der bisweilen der Vorwurf gemacht wurde, ihr Buch beschäftige sich zu sehr mit Genderfragen (als könnte man über Mode schreiben, ohne dabei auch über Geschlechter zu schreiben!), denkt weder an den "Fleischmarkt" (Laurie Penny) noch an "erotisches Kapital" (Catherine Hakim). Die Romanistin sieht diese Beine und denkt an Louis XIV.
"Im Europa der Renaissance waren Seidenstrümpfe Männersache", schreibt Barbara Vinken. Heute sei das noch auf den Gemälden flämischer und italienischer Meister zu sehen, auf denen die Mächtigsten des Ancien Régime Strumpfhosen tragen. Die Aristokratie zeigte ihre Beine, zumindest bis die französische Revolution damit Schluss machte. Sansculotten hießen die Revolutionäre, weil sie Arbeitskleidung trugen, nicht die Culotte, die vornehmen Kniebundhosen der Oberschicht. Diese Revolutionäre verbannten nach ihrem Sieg nicht nur die aristokratischen Privilegien, sondern auch die aristokratische Kleidung.
Männerkörper sachlich, Frauenkörper erotisch
Im bürgerlichen Zeitalter, schreibt Vinken, ging es nicht mehr um Glanz, Verführung und Verschwendung, sondern um Vernünftigkeit. Das moderne (männliche) Subjekt kleidete sich im dunklen Anzug, dessen Hosenbeine weit geschnitten waren und dessen Jacke den Po bedeckte. "Heute werden nicht mehr die Stände spektakulär inszeniert; spektakulär wurde Weiblichkeit", schreibt Vinken. Nach der Revolution wurde die Mode demnach von einer Männer- zur Frauensache: Männer versteckten ihre Körper, aber Frauen, die aus der Politik zunächst verdrängt wurden, durften sich verkleiden, schmücken und auffallen. Männerkörper wurden sachlich, Frauenkörper erotisch. Heute wirkt das nach: Der dunkle Anzug ist zwar nicht mehr überall verbindlich, doch die wenigsten Männer trauen sich geschminkt zur Arbeit. Viele wissen, welche Designer Michelle Obama trägt, aber niemand kennt den Schneider ihres Mannes.
Provokant wird "Angezogen", wenn Vinken die Mode als "Fremdkörper im Herzen der Moderne" beschreibt. Vom Modischen gehe demnach ein Impuls aus, der sich gegen die Ästhetik und Moral der Moderne richte: Mode sei nicht sparsam, sondern verschwenderisch; sie wolle nicht überzeugen, sondern verführen; sie appelliere an die Sinne und nicht an die Vernunft. Viele Verfechter der Moderne wollten die Mode deshalb abschaffen oder wenigstens reformieren, schreibt Vinken: Jean-Jacques Rousseau etwa habe die Modestadt Paris als orientalischen Sündenpfuhl empfunden und Émile Zola das Kaufhaus als einen "antirepublikanischen Ort der tyrannischen Despotie".
Ist Mode also antimodern? Ist das unbequeme (aber modische) Kleidungsstück ein lustvoller Akt des Widerstands gegen eine Zeit, in der Kleider und Menschen bloß funktionieren sollen? Wohl kaum, jedenfalls nicht, wenn man die Moderne nicht nur als ein ästhetisch-moralisches Programm versteht, sondern auch als ein ökonomische Ordnung. Der Kapitalismus wird von einer widersprüchlichen Logik getrieben: Einerseits soll der Mensch als Arbeiter und Angestellter diszipliniert und effizient sein - also modern in dem Sinne, den Vinken beschreibt. Andererseits soll er als Konsument hedonistisch und verführbar sein, kaufen, Kredite aufnehmen und unvernünftig handeln. Wieso der schicke, aber unangenehm eng geschnittene Anzug eines Hedi Slimane subversiver sein soll als Cordhose und Baumwollsakko, bleibt offen.
Am Ende von "Angezogen" ist man ein bisschen allein mit solchen Überlegungen - und mit den neuen Frauenbeinen, die man nun zwar überall sieht, aber noch nicht recht zu deuten weiß (die Leggingsfrau als Sonnenkönig?). Barbara Vinken wagt weder Zukunftsprognosen noch bietet sie eine abgeschlossene Theorie der Kleidung. Ihr Buch bleibt in diesem Sinne essayistisch: spielerisch statt stringent, unfertig statt dogmatisch, unterhaltsam statt didaktisch. "Angezogen" steht am Anfang eines Nachdenkens über Mode. Seiner Autorin dürfte das recht sein.
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