Bestseller Warum Harry Potter sterben muss
Im Anfang war das Wort - und nicht das Marketing. Als der englische Kleinverlag Bloomsbury am 26. Juni 1997 "Harry Potter und der Stein des Weisen" in der bescheidenen Auflage von 500 Exemplaren druckte, hatte der Verlag weder Ahnung vom forcierten Marketing - noch Geld dafür. Doch die Geschichte um den Zauberlehrling hatte Kraft und Magie und machte auch so ihren Weg.
Der Tipp ging von Mund zu Mund, von Schulhof zu Schulhof, von Buchhandlung zu Buchhandlung. Später haben das Internet und eine wohlwollende Presse geholfen, Harry Potter zu einem weltumspannenden Phänomen zu machen. Harry Potter war bereits der nach Bibel und Koran größte Bestseller aller Zeiten, bevor ihn das Big Business unter die Fittiche nahm.
Selbst als die Schriftstellerin Joanne K. Rowling und ihr Agent Christopher Little den Zauberlehrling in einem kommerziellen Sündenfall in die Hände der Vergnügungsindustrie in Gestalt des weltgrößten Medienkonzerns AOL Time-Warner gaben, trotzte Harry Potter der totalen Kommerzialisierung. Die Filme waren zwar ein grandioser kommerzieller Erfolg, künstlerisch jedoch fügten sie dem Mythos nichts Wesentliches hinzu.
Mehr geschadet als genutzt
Das Hardcore-Marketing à la Hollywood hat Harry Potter mehr geschadet als genutzt. Normalerweise steigen Buchverkäufe deutlich an, wenn Hollywood einen Stoff in die Hand nimmt. Anders bei Harry Potter: Nur der erste Film half dem Verkauf, danach verpuffte der Effekt. Der gedruckte Stoff schöpft sein Leserpotential ohne Hilfe von Hollywood aus. Stattdessen macht die lautstarke Vermarktung die Marke für viele Buchfreunde unsympathischer.
Das begleitende Merchandising, also der Verkauf von Harry-Potter-Tassen, -Ranzen und anderem Kitsch, war ein Fiasko auf der ganzen Linie. Der Achterbahn-Verlag in Kiel investierte groß in Harry-Potter-Lizenzen und wurde von den Kosten in den Konkurs gerissen. Der Frankfurter Eichborn-Verlag entging einem ähnlichen Schicksal nur knapp.
Harry Potter bleibt ein Auflagenheld jenseits gängiger Vermarktungsstrategien. Er hat einer ganzen Branche - dem kriselnden Bücherbusiness - ihr Selbstbewusstsein zurück gegeben. Es ist das Buch, das die Diskussionen in den Medien, auf den Schulhöfen und an den Kaffeetafeln bestimmt. Die Macht des gedruckten Wortes trotzt der Übermacht der bunten Bilder.
Fehlen nur noch Tierfreundschaften
Die Magie und der Markterfolg liegen in der Geschichte selbst begründet: Harry Potter bedient alle Genres, die im Jugendbuch Erfolge versprechen: Die in England so beliebte Internatsgeschichte, eine große Portion Fantasy, aber auch Freundschaftsgeschichten und ein Held, der nicht immer nur stark ist und zur Identifikation einlädt. Von den üblichen Erfolgszutaten eines Jugendromans fehlen eigentlich nur noch Tierfreundschaften zur perfekten, allumfassenden Erfolgs-Synthese. Selbst die Lebensgeschichte der Autorin - arme, allein erziehende Mutter bezieht Sozialhilfe und wird plötzlich mit einem Buch weltberühmt und steinreich - liest sich, als hätte ein PR-Agent sie erfunden. Doch das Leben selbst hat sie geschrieben.
Auch der deutsche Potter-Verlag, Carlsen in Hamburg, war ein eher kleines Unternehmen, das mit Comics und Pixi-Büchern gerade mal 18 Millionen Euro Umsatz pro Jahr schaffte, ehe Harry Potter ihm in fünf Jahren fast 200 Millionen Euro in die Kassen spülte. Bis heute hat Carlsen für Harry Potter keine Werbeagentur, keinen Millionen-Etat für Marketing, nicht mal einen eigenen PR-Fachmann. Die Hamburger verlassen sich auf die Fans und die Medien, die mit täglichen Harry-Potter-Meldungen liefern, was die informationshungrigen Fans wollen. Auch der englische Verlag Bloomsbury hat keine Maßstäbe in Sachen Vermarktung gesetzt. Nur in Sachen Geheimniskrämerei hat man es zu einer gewissen Meisterschaft gebracht.
Das Ende der Fahnenstange ist in der Vermarktung längst erreicht. Immer neue Rekordmeldungen über Vorbestellungen und Erstauflagen täuschen: Die Gesamtauflagen von Harry Potter sinken von Band zu Band. Angefeuert vom Medienhype und Palettenverkauf bei Discountern, Tankstellen und Baumärkten ist Harry Potter ein extrem schnelles Geschäft geworden. Was nicht innerhalb der ersten ein, zwei Wochen verkauft wird, bleibt lange liegen. Und weil der Carlsen-Verlag übrig gebliebene Bände nicht ohne weiteres zurück nimmt, fluchen viele Buchhändler über die Kapitalbindung im Keller.
Ruhen, um zum Klassiker zu werden
Auf Stapeln von Büchern blieben viele Händler auch im Frühling nach Veröffentlichung der Taschenbuch-Ausgabe des ersten Bandes "Harry Potter und der Stein der Weisen" sitzen. Das Buch kam sechseinhalb Jahre nach der fest gebundenen Ausgabe einfach viel zu spät. So verwandelte sich der verkaufsstarke Zauberlehrling vor den Augen der verblüfften Buchhändler - simsalabim - in einen Ladenhüter. Auch beim neuen, sechsten Band stehen die Händler vor einem Dilemma: Wer sich zu viele Bücher zulegt, bleibt darauf sitzen, wer zu wenig ordert, verpasst die Potter-Bonanza und vergrätzt die Kundschaft.
Da trifft es sich gut, dass Harry Potter mit dem bevorstehenden siebten Band seinem verdienten Ende entgegen sieht. Es sei an der Zeit, dass er stirbt, sagte der Trendforscher Matthias Horx in einem Interview mit dem Marketing-Fachblatt "w&v": "Länger lässt sich der Aufmerksamkeitspegel nicht halten." Harry Potter muss sterben, um ewig zu leben. Die Generation, die Potter in jungen Jahren verschlungen hat, wird ihn ihren eigenen Kindern wohl mit der Muttermilch einflößen.
Bis dahin dauert es noch ein bisschen. In vielen Buchhandlungen läuft heute ein Klassiker wie "Die kleine Hexe" von Otfried Preußler besser als ein älterer Harry-Potter-Band. Potter I bis IV verkaufen im Hardcover pro Jahr nur zwischen 20.000 und 40.000 Exemplare - und damit wenig als ein echter Jugendbuch-Evergreen. Der Markt ist einfach gesättigt, es muss erst eine neue Lesegeneration nachwachsen.
Obwohl Joanne K. Rowling ihren Zauberlehrling schon vor Jahren zur Adoption an fiese Werber-Muggles freigegeben hat, bleibt die Behauptung, dass Harry Potter eine perfekte Marketing-Maschinerie sei, eine Lüge. Marketing-Leute erzählen sie sich gern, um sich wichtig zu machen. Das Gegenteil ist richtig: Das Marketing rund um Harry Potter ist nur selten professionell, das Ende der kommerziellen Fahnenstange längst erreicht, und viele Geschäftsmacher fielen und fallen mit Harry auf die Nase. Während dessen bewahrt sich der Zauberlehrling einen Rest magischer, vorkommerzieller Unschuld.
Vielleicht ist Harry Potter der letzte Mythos, der von unten kam, der ohne Marketing-Masterplan seinen Weg machte. Am Ende zeigt das Phänomen Harry Potter eines: Die Magie der Phantasie ist größer als die Macht der Marktmechanismen. Geist schlägt Geld. Auch dafür: Danke, Harry!