Missbrauchs-Roman Der Gott der alten Männerschweine

Es beginnt mit einem Alten, der im Wald "mit seinem Rhabarber" wedelt, und endet als Tragödie. Maria Sveland, Autorin des Bestsellers "Bitterfotze", seziert in "Häschen in der Grube" sexuelle Gewalt in einer von Männern geprägten Gesellschaft.
Maria Sveland ist mit "Häschen in der Grube" ein ernsthaft gutes Buch gelungen.

Maria Sveland ist mit "Häschen in der Grube" ein ernsthaft gutes Buch gelungen.

Foto: Leif Hansen/ Kiwi

Wenn Julia und Emma beten, dann klingen ihre Gebete so: "Lieber Gott, auch wenn du nur ein alter Mann bist und vielleicht ein bisschen mehr mit alten Männern sympathisierst", sagt Julia, "ich bitte dich, habe ein Nachsehen mit zwei verzweifelten Mädchen. Nimm es als einen Akt der Selbstverteidigung. Eine nützliche Lektion für Männer, die kleinen Mädchen im Wald mit ihrem Rhabarber winken." Und Emma sagt: "Lieber Gott, ich bitte dich! Trenne dich ausnahmsweise mal von deiner Männersolidarität. Denk an deine Frau und deine Töchter. Wenn du welche hast."

Julia und Emma sind beste Freundinnen. Sie sind 13 Jahre alt, klauen manchmal Süßigkeiten am Kiosk und reden über Reisen, die sie einmal machen werden. Irgendwann. Nach der Schule. In der Schule sitzen sie nebeneinander weit weg von den Klassentussis, und in den Sommerferien sitzen sie am liebsten hoch oben in den Ästen ihres Baums inmitten des Waldes, wo die "Kaputten" leben, wie Emmas Mutter sagt. Und wo sie eines Tages einen Mann treffen, der plötzlich seine Hose öffnet, der Obszönitäten erst flüstert, dann schreit, den sie wegen des seltsamen Anblicks seines Penis den Rhabarbermann nennen. An dem sie sich rächen, indem sie ihn mit Schokoladenpudding bewerfen und ihm die Nase brechen, aber dessen Auftauchen der Auftakt einer furchtbaren Tragödie ist.

Denn Julia entwickelt plötzlich einen Hass, den sich Emma erst nicht erklären kann. Sie zieht sich immer mehr in sich selbst zurück, kann nachts nicht mehr schlafen und fürchtet den Vater, der unbedingt mit ihr allein in die Sauna will. Am Anfang dieses Buches gibt es noch die Hoffnung, dass Julia nur die schreckliche Wahrheit erzählen müsste, dann würde bestimmt alles gut. Aber am Ende hat doch Julia recht, die an einer Stelle des Romans zu Emma sagt: "Es ist überhaupt nichts gut. Nichts ist gut, nichts wird je gut sein."

Machtkampf um Deutungshoheit

Nach der Hälfte des Buches hätte Sveland ihren Lesern ein Happy End gönnen können. Die Wahrheit ist raus. Tee ist gekocht. Der Holztisch gedeckt. Aber statt eines Abspanns gibt es einen Spanner draußen vor dem Fenster. Anrufe bei Nacht. Einen Streit ums Sorgerecht. Fast grausamer als der Missbrauch selbst ist der anschließende Machtkampf um die Deutungshoheit, der das Mädchen in den Augen der Nachbarin zu einer Lügnerin macht, ihre Mutter in ihrer Verzweiflung zu einer Brandstifterin und Emmas Mutter - die beiden Zuflucht gewährt - in den Berichten der Klatschpresse zu einer Prostituierten. Denn Julia und Emma leben in einer kleinen Stadt, die irgendwo im Schweden der achtziger Jahre liegt - und viel wichtiger - in einer Welt, die nur ein alter Männergott für alte Männer geschaffen haben kann. Von den ungeschriebenen, undurchdringlichen Gesetzen dieser Welt handelt dieser Roman.

Er heißt "Häschen in der Grube", und geschrieben hat ihn die schwedische Autorin Maria Sveland, die vor einigen Jahren mit ihrem Debüt "Bitterfotze" für viel Aufsehen sorgte. Darin ging es um eine junge Frau namens Sara, die genauso lange dachte, dass sie mit Johan in einer gleichberechtigten Beziehung lebte, bis sie ihr erstes Kind bekamen. Plötzlich war Sara ausgelaugt, deprimiert, voll schlechtem Gewissen, während Johan es schaffte sein Kind zu lieben und gleichzeitig egoistisch genug zu bleiben, um sich selbst zu verwirklichen. Der Roman war damals wohl auch deshalb ein solch großer Erfolg, weil es um mehr ging als um Sara und Johan. Weil es um die Ungerechtigkeit zwischen Frauen und Männern im Allgemeinen ging und der Roman in seiner letzten Konsequenz die Systemfrage stellte.

Muster und Machtverhältnisse

Und obwohl die Thematik von Svelands neuem Roman viel düsterer und brutaler ist, ist genau das wieder die größte Stärke ihres Buches: das Herausarbeiten des Systematischen, des Allgemeinen, der Muster und Machtverhältnisse, die Täter und Opfer voneinander unterscheiden. Man verzeiht dem Roman deshalb auch gerne jede Ärztin und jede Sozialarbeiterin, die wie ein Infoblock im weißen Kittel zwischen den Zeilen herumstehen, solange sie dazu dient, die Mechanismen zu erklären an Stellen wie diesen: "Während ihrer zwanzig Jahre als Ärztin hatte sie einige Frauen gesehen, die schlimme Dinge erlebt hatten, an die sie sich lieber nicht erinnern wollten. Sie wusste, dass sie bestenfalls noch Fragmente berichten konnten, während die Verletzungen eine deutlichere Sprache sprachen. Scham und Schuldgefühle waren oft lähmend."

Zumal der Roman ansonsten literarisch weitaus geschickter vorgeht. Da ist zum Beispiel Svelands Erzählstimme, die auf beinahe unheimliche, subtile Weise immer wieder die omnipräsente Körperlichkeit artikuliert, mit der Frauen wahrgenommen werden: "Zum ersten Mal, seit sie mit Julia befreundet war, musste Emma einsehen, dass sie nur einen Teil von Julia kannte. Dass der schlanke, sehnige, starke Körper noch etwas verbarg, von dem sie keine Ahnung hatte."

Da ist ihre Beschreibung der unterschiedlichen Frauen, die alle unter Gefallsucht, Magersucht oder Alkoholsucht leiden. Und da ist ihre Fähigkeit, für die Missbrauchserfahrungen die richtigen Worte zu finden, gleichzeitig sensibel und direkt. Für eine Erfahrung, die jenseits des Sprachraums liegt. Im Buch heißt es einmal dazu: "Es war zu hässlich und zu eklig, gleichzeitig wurden die Geschehnisse jämmerlich und klangen albern, wenn man sie in Worte kleidete." Die Worte, die Sveland findet sind nicht zu eklig, nichts klingt jämmerlich, nichts albern. Es kann vielleicht gar kein schönes Buch sein, aber es ist ein ernsthaft Gutes.

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