»Böses Glück« von Tove Ditlevsen Kalte klare Kunst

Autorin Ditlevsen 1975
Foto:Skanereportage / IMAGO
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Das Unbehagen kriecht einem beim Lesen die Wirbelsäule hoch. Am Ende sitzt man so verkrampft da, dass man sich durchschütteln muss, um wieder in die Welt zurückzukommen. »Böses Glück« heißt der neue Band mit Storys der dänischen Autorin Tove Ditlevsen, und der Titel passt zum Inhalt wie zum Leseerlebnis.
Von ein paar ersten Sätzen der Erzählungen bekommt man schon ein Gefühl für den ganzen Band. Einige setzen eine Stimmung, ohne viel Aufhebens darum zu machen: »Grete hielt den Spiegel, während ihre Mutter sich puderte und eine Perücke aus weißen Engelslocken auf ihre Stirn presste.«
Andere erzeugen sofort Spannung, ohne plump zu sein: »Helga hatte schon immer, und vollkommen widersinnig, mehr vom Leben verlangt, als es bieten konnte.« Und manche sind schonungslos: »Hanne war erst sieben Jahre alt, trug aber schon eine große formlose Angst in sich.«
Diese Sätze bringen das mit, was alle Storys mitbringen – Klarheit, Kälte und Kunst. Klar sind sie in der Schnörkellosigkeit. Kalt sind sie, weil sie beschreiben, was meist lieber verborgen gehalten wird. Beides zusammen ergibt die Kunst.
Und natürlich fallen die Frauennamen als Eröffnung auf. Denn es sind die Frauen, um die es hier geht. Die Männer sind im Weg oder gefährlich: der Abtreibungsarzt, dem man nicht die Laune verderben darf. Der Vater, den man nicht wecken darf. Der Ehemann, den man nur tagsüber vergessen darf.
Die Autorin dieser akribischen Beobachtungen ist in Dänemark längst kein Geheimtipp mehr, in Deutschland wird sie erst noch entdeckt. »Sie stammte aus der Arbeiterklasse und schrieb offen über die Höhen und Tiefen ihres Lebens.« So beschreibt der deutsche Aufbau-Verlag die Autorin. Welch große Kunst Tove Ditlevsen hinterlassen hat und welch Glück es ist, dass diese wiederentdeckt wird, haben Kulturjournalisten bereits vor zwei Jahren in weniger nüchternem Ton bejubelt. Da erschien Ditlevsens »Kopenhagen Trilogie«, in der sie literarisch ihr eigenes Leben aufarbeitete, auf Deutsch. Zu Recht wurden die Bücher mit den Texten der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux verglichen.
Im Herbst erscheint endlich eine Biografie über Ditlevsen, die während des Ersten Weltkriegs in Kopenhagen zur Welt kam, viermal verheiratet war, unter Psychosen litt und 1976 Suizid beging.
Jetzt erscheint aber eben zunächst der Band mit Erzählungen erstmals auf Deutsch. Die sogenannte Arbeiterklasse findet sich auch in ihnen, etwa kurz und knapp hier: »Männer gingen zur Arbeit, und wenn sie zu Hause waren, schliefen sie.«
Es ist vor allem die Enge, die das Unbehagen auslöst. Die Protagonistinnen und Protagonisten sind eingesperrt in Regeln und Annahmen, die ihr Handeln beschränken: »…sie machte nicht gerne Geräusche, wenn sie allein zu Hause war.« Wenn sie etwas Schönes fühlen, ist es »Abglanz« früherer Zeiten. Wenn sie etwas Schlimmes fühlen, packen sie es schnell weg. Man will diese Figuren schütteln und anschreien, wie sie so sitzen an Küchentischen und in Zugabteilen, unfähig, sich selbst zu erkennen. »Ihre ausdruckslosen Augen sprachen für Ehe und Bürotätigkeit.«
Wirklich schwer erträglich sind die Erzählungen, in denen Kinder die Protagonisten sind. Wenn eine Trennung der Eltern auch ein Geschwisterpaar trennt oder wenn das Wissen um die eigene Adoption Scham und Selbsthass in einem kleinen Jungen nährt. Dann möchte man diese Kinder trösten (und die Eltern anschreien).
Und doch wünsche ich mir fast eine Geschichte, die mit dem (immerhin nordischen) Namen Frauke anfängt. So wie Grete, Helga und Hanne. Die Erkenntnisse kriechen nämlich beim Lesen gemeinsam mit dem Unbehagen die Wirbelsäule hoch. Die Erkenntnis, wie viel sich verändert hat am Patriarchat seit der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts und dass doch einiges gleich geblieben ist. Die Erkenntnis, wie Menschen sich selbst im Weg stehen und wie sie vor allem anderen das Leben schwer machen in der Suche nach Anerkennung und Zuneigung. Wie unnütz das ist. Und wie lebenswert dann doch, weil neben der Enge die Befreiung steht.
Nur noch eine Warnung: Lesen Sie nicht alle Storys auf einmal, das schlägt aufs Gemüt. Aber lesen Sie sie ruhig.