

Jochen Brockmann ist Anfang 50, stammt aus der westdeutschen Provinz und lebt in Turin. Er sammelt moderne Kunst. Er raucht zu viel. Vor allem aber ist er der Verkaufsleiter eines ziemlich unglamourösen Konzerns: Der stellt "Anlagen zur Beschichtung und Lamination von Stückgut und Substraten" her. Irgendwas zur Versiegelung von Oberflächen also.
Brockmann ist ein dezent melancholischer Typ, der gerne standesgemäß in den besten Hotels logiert und seine weltmännische Ungebundenheit durchaus inszeniert. Einer wie er verkneift sich höchstens einmal den Kauf eines maßgeschneiderten 2000-Euro-Anzugs. Beim zweiten Blick in das Schaufenster wird das Ding geschossen.
Brockmanns Problem ist, dass er, nachdem ein Geschäft in Indonesien geplatzt ist, kurz vor dem Rauswurf steht. Er überschlägt den Wert seiner Gemälde-Sammlung und räumt sein Schweizer Schwarzgeldkonto, das Töchterchen will versorgt sein. Ehe er zur diamantenen Hochzeit seiner gutbürgerlichen Eltern nach Deutschland reist, gibt er noch ein wenig den geschäftigen Jetsetter, lässt sein Leben passieren, verliebt sich, trifft alte Bekannte.
Und in São Paulo trifft er zufällig den undurchsichtigen und ihm unbekannten Amerikaner Sylvester Lee Fleming, der unter allen Handelnden in Ulrich Peltzers jetzt für den Buchpreis nominiertem Zeitgeist-Roman "Das bessere Leben" am ehesten noch eine zweite Hauptfigur ist. Fleming macht einen rätselhaften und verdrehten Eindruck auf den alles in allem konformistischen Brockmann.
Ein widerborstiger Roman
Der Leser, vom ehrgeizigen Autoren Peltzer ("Teil der Lösung", "Bryant Park") in dessen fünften Roman am lockeren Band durch vordergründig disparate Episoden und Szenen geführt, kennt diesen Fleming da schon länger - als einen wie Brockmann um den Globus Reisenden. Fleming ist wie Brockmann ein Geldjäger. Aber seine Mittel sind definitiv schmutziger: Er ist ein skrupelloser Versicherungsmakler und Risikoberater.
Der Roman ist in seiner komplexen und nicht-linearen Anlage zunächst einmal entschieden widerborstig; man muss sich in die Bewusstseinsstrom-Kaskaden hineinarbeiten. Und wer nicht aufpasst, ist im Assoziationsreigen schon verloren gegangen: In seiner weit ausholenden Zusammenschau collagiert Peltzer ein ganzes Bündel von Erkenntnis- und Identifikationsmodellen. Sie tauchen in diesem Roman wie flüchtige Imagines auf und wieder ab, Aufblendungen des menschlichen und politischen Geistes im 20. Jahrhundert - die Revolte, der Sozialismus, die Kunst, die Religion, die Familie.
Unter den Finalisten des Buchpreises ist Peltzer der suggestivste. Auf meisterliche Weise gelingt es ihm, ein Fluidum des Verdächtigen in Gang zu setzen: All diese Geschäftsleute, Verkäufer und Spekulanten, deren Treibstoff das Geld ist! Aber wie famos, dass trotz dieses Personals die Ausschläge auf der Arschloch-Skala nicht übertrieben hoch sind, denn "Das bessere Leben" ist alles andere als ein Tribunal.
Es ist vielmehr die Transkription eines Zeitalters im Selbstgespräch: Wenn die Schönheit immer nur Beiwerk ist und die Utopie sich längst verraten hat, dann sind wir halt alle egoistische Individualisten. Kein Grund, moralisch zu werden.
Genau das ist der Roman in seinen dauerreflektierenden - Fleming! - Passagen nie. Die Kritiker haben Peltzers "gedankliche Raserei" gelobt, wenn er seinen Helden bisweilen arg freigeistige Extratouren gönnt. Man könnte Peltzer auch einen frechen Bedeutungs-Freestyle attestieren. Und man könnte das Stereotyp der ehemaligen Revolutionäre, die Jahrzehnte nach ihrer linken Jugend im kapitalistischen System ganz manierlich mitspielen, durchaus lahm nennen.
Abwandlung des Kleine-Welt-Phänomens
Peltzer schlägt in dem weitestgehend im Jahr 2006 angesiedelten Roman einen Bogen von den niederrheinischen Teenager-Revoluzzern zum Kent-State-Massaker in Ohio im Jahr 1970, als die Nationalgarde bei einer Anti-Vietnamkrieg-Demo vier unbewaffnete Protestierende erschoss. Was diesen Vorfall angeht, gibt es eine flüchtige und verborgene Verbindung zwischen Brockmann und Fleming: eine Abwandlung des Kleine-Welt-Phänomens, nach dem über ein paar Ecken jeder mit jedem bekannt ist und an das man sich bei der Lektüre erinnert fühlt.
Weil diese Lesart aber zu trivial sein könnte, installiert Peltzer als Mann an der Schnittstelle dieser Verbindungen mit Fleming einen Bösewicht, der über die Grenzen des Erlaubten hinaus dafür sorgt, dass die Versicherungen seiner Auftraggeber gekauft werden. In diesem kühn und kühl komponiertem Roman, in dem es viel um den Zufall geht, ist in formaler Hinsicht nichts zufällig: Fleming ist wie ein böser Geist, aber seine Pläne bleiben rätselhaft.
Bei aller Bewunderung für Peltzers handwerkliche Akkuratesse und den erzählerischen Mut, der mit der sprachlich zwar äußerst verschränkten, aber inhaltlich bewusst luftigen Konstruktion einhergeht, würde man sich ein semantisches Zentrum wünschen. Das verweigert Peltzer jedoch. Schließlich fließen auch die Geldströme, um die es in "Ein besseres Leben" geht, in viele Richtungen, aber nie auf den einen Punkt zu. Die Begegnungen sind flüchtig, der Transit durch Zeiten und Räume bricht die Biografien auf. Dass in diesem globalen Risiko-Individualismus Bedürfnisse unerfüllt bleiben oder Neurosen entstehen, greift Peltzer in mehreren Szenen auf, etwa wenn ein österreichischer Spekulant nervenzerfetzt auf der Couch des Psychologen hockt.
Wirklich nahe zoomt Peltzer trotz des direkten Zugangs zu deren Gedanken nicht an seine Figuren, das will er auch gar nicht. Und wenn man feststellt, dass der Roman auf beinah schon penetrante Weise keine Haltung entwickelt, dann ist das kein Ausschlusskriterium für die insgesamt wenig freundliche Darstellung der Wirtschaftsangelegenheiten. Trotzdem ist "Das bessere Leben" kein Wirtschaftsroman. Es ist auch kein Roman über die Globalisierung.
Am ehesten ist "Das bessere Leben", wenn man an die Hauptfigur Brockmann denkt, ein Roman über die Kontingenz von Lebensläufen: Nichts ist vorhersehbar, weder der nächste Rausschmiss oder die nächste Frau noch der nächste Interkontinentalflug.
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In Ulrich Peltzers Roman "Das bessere Leben" geht es um den kettenrauchenden Kunstsammler Jochen Brockmann, dem Verkaufsleiter eines Herstellers von "Anlagen zur Beschichtung und Lamination von Stückgut und Substraten". Mit dem Roman ist Peltzer einer der Anwärter auf den deutschen Buchpreis.
Für Elke Schmitter im SPIEGEL ist es "das Buch der Stunde": Jenny Erpenbecks Roman "Gehen, ging, gegangen", in dem ein emeritierter Professor sich den Asylsuchenden auf dem Berliner Oranienplatz widmet, ist für Schmitter "ein trauriger Glücksfall für die deutsche Literatur". Nun steht auch die 1967 geborene Erpenbeck auf der Shortlist für den Buchpreis.
Unter die letzten sechs im Wettstreit um die renommierten Literaturauszeichnung hat es auch Ulrich Peltzer geschafft. Der 1956 in Krefeld geborene Autor lebt seit vier Jahrzehnten in Berlin, in seinem Roman "Teil der Lösung" beschrieb er 2007 die politische Szene der Stadt. Nun ist er allerdings nominiert für "Das bessere Leben", einen weitverzweigten Wirtschaftsroman, den SPIEGEL-Kritiker Volker Weidermann jedoch für "grandios gescheitert" hält.
Monique Schwitter, 43, ist aufgewachsen in der Schweiz und lebt heute in Hamburg. Auch sie könnte am Vorabend der Frankfurter Buchmesse ausgezeichnet werden - für ihren Roman "Eins im Andern", eine "literarische Liebesbilanz", die laut SPIEGEL-Kritiker Wolfgang Höbel "trickreich starke Reize kombiniert, mit denen man einerseits einen Haufen Kritiker und andererseits ein großes Lesepublikum überzeugt."
Der Schweizer Schriftsteller Rolf Lappert hat es schon zum zweiten Mal auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis geschafft. 2008 zog die Jury Uwe Tellkamps "Turm" Lapperts Roman "Nach Hause schwimmen" vor. Ob es seinem Familienroman "Über den Winter" 2015 besser ergehen wird?
Sie ist die Jüngste unter den sechs Nominierten: Inger-Maria Mahlke, 1977 in Hamburg geboren, gewann mit ihrem Romandebüt "Silberfischchen" den Klaus-Michael-Kühne-Preis des Harbour-Front-Literaturfestivals. Ihr neuester, dritter Roman "Wie ihr wollt" spielt im Jahre 1571: Eine Cousine der Königin rechnet darin mit dem englischen Hof ab.
Frank Witzels "monumentaler Roman" (SPIEGEL-Redakteur Georg Diez) "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969" lässt die alte Bundesrepublik wieder aufleben. Der 1955 in Wiesbaden geborene Autor könnte, wie die fünf anderen Nominierten, am 12. Oktober in Frankfurt am Main mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet werden.
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