Buchpreis-Kandidat Ruge "Die DDR war nie schön für mich"

Es ist ein schillernder Roman über eine privilegierte DDR-Familie, autobiografisch und doch allgemeingültig: Eugen Ruge ist mit "In Zeiten des abnehmenden Lichts" für den Deutschen Buchpreis nominiert. Mit SPIEGEL ONLINE spricht er über Ideologie in Ost und West - und den konspirativen Keller seines Opas.

SPIEGEL ONLINE: Herr Ruge, als Alexander, Ihr Alter Ego im Roman, einer Urlaubsbekanntschaft von seiner DDR-Herkunft erzählt, guckt die, "als habe sie versehentlich eine besetzte Toilette betreten". Die DDR als Abort der Geschichte?

Ruge: Zumindest kenne ich dieses Gefühl, dass Leute glauben, es müsse ihnen peinlich sein, auch 20 Jahre nach der Wende mit "so etwas" in Berührung zu kommen. Die Vorstellungen über die DDR sind bizarr und von teils simpler antikommunistischer Strickart. Da wird auch kräftig hinterhergetreten. Dieser DDR-Sozialismus ist mit Recht verschwunden, und ihn zu verteidigen liegt mir fern. Ich bin ja selbst wie Alexander im Roman abgehauen, weil ich die Nase voll hatte.

SPIEGEL ONLINE: Was hat dann Ihr Interesse wieder geweckt?

Ruge: Ich habe erst nach der Wende angefangen, mich mit dem Thema Familie zu beschäftigen. Und je mehr sich mein Leben in Vergangenheit verwandelte, habe ich den Stoff literarisch gesehen. Mir wurde nach und nach bewusst, dass im Verschwundenen, in der teils absurden Geschichte meiner Familie und der einzelnen Figuren auch Schönheit ist. Schön war die DDR für mich nie, ich habe sie als klein und eng und grau empfunden. Schönheit kann aber auch in der Beschreibung liegen, selbst des Bizarren.

SPIEGEL ONLINE: Das Buch lässt sich als Abgesang auf eine kommunistische Dynastie lesen. Für den Großvater im Buch, einen KP-Kämpfer der ersten Stunde, wäre so etwas Defätismus, wenn nicht Verrat gewesen. Wie hätte wohl Ihr Vater, der marxistische Historiker Wolfgang Ruge, reagiert?

Ruge: Da gibt es eine philosophisch-historische und eine persönliche Seite. Die einzelnen Geschichten in meinem Roman sind hundertprozentig erfunden, aber ich habe sie aus biografischem Material geformt. Und ich habe festgestellt, dass Menschen immer sauer sind auf ihre literarische Verarbeitung. Ich glaube, dass mein Vater persönlich sauer wäre, weil er sich nicht richtig dargestellt fühlte, und das verstehe ich auch. Mein Vater ist nicht identisch mit dieser Figur, in die aber sehr viel von ihm eingegangen ist. Die philosophisch-historische Seite würde er hingegen wahrscheinlich richtig und gut finden.

SPIEGEL ONLINE: Wilhelm Genazino schrieb einmal, es sei möglich, dass er "erst mit dem Tod der Eltern zum Dichter geworden" sei.

Ruge: Ja, das ist einer der Gründe, weshalb ich so spät mit dem Buch angefangen habe, vielleicht ist es sogar der wichtigste. Zumindest scheint es mir so, da ich zu Lebzeiten meines Vaters, der 2006 starb, nicht mit dem Stoff zurechtkam. Nachdem alle Protagonisten verstorben waren, war es leichter, literarische Anleihen bei ihnen zu machen, aber auch leichter, frei zu erfinden.

SPIEGEL ONLINE: Als Historiker war Ihr Vater ein Angehöriger jener Gruppe, die dem real existierenden Sozialismus eine Idee gab: als Bewahrer und Deuter des historischen Materialismus. Gab es in Ihrem Elternhaus ein Bewusstsein für den besonderen Status, vergleichbar vielleicht mit dem protestantischen Pfarrhaus früher?

Ruge: Einer der ersten Kommentare meines Verlegers Alexander Fest betraf sein Erstaunen, wie bürgerlich doch das Leben in der DDR war. Die Eltern haben ein bürgerliches Leben geführt. Dazu gehörte auch der intellektuell-akademische Dünkel meines Vaters, obgleich es in der DDR kaum ein Kastenmilieu gab, das diesen Dünkel befördert hätte. Ansonsten war mein Vater offen und kritisch. So etwas wie ein Verbot, Westfernsehen zu gucken, gab es nicht bei uns. Es war nicht leicht, sich gegen so jemanden aufzulehnen.

SPIEGEL ONLINE: Leichter dürfte es Ihnen bei den Großeltern gefallen sein. Die Oma in Ihrem Buch erinnert an Margot Honecker, der Opa an Erich Mielke. Prägende Typen für die DDR?

Ruge: Ja und nein. Sie galten bei uns, in der Kernfamilie, als schwarze Schafe, als verknöcherte Karrieristen, Parteimenschen. Und sie bildeten auch den Ausgangspunkt für den Roman, aber es fiel mir schwer, mich in sie hineinzuversetzen. Den Großvater, der ja schon 1923 beim Hamburger Aufstand dabei war, finde ich als Figur viel interessanter als Mielke, eben weil er nicht in der Stasi war. Dabei wäre er es gerne gewesen! Sie ließen ihn als Westimmigranten aber nicht rein. Insofern hätte er sich als Opfer des DDR-Systems stilisieren können! Er ist ein echter Typ und damit schon wieder nicht typisch für die grauen SED-Funktionäre. Überhaupt habe ich mich beim Schreiben nicht vom Typischen leiten lassen, sondern von dem, was ich kenne. Ich kann nicht behaupten, mein Roman, das sei die DDR.

SPIEGEL ONLINE: Das Haus der Großeltern gleicht aber einer planlos ruinierten DDR: Nach Jahrzehnten dilettantischer Renovierungen und Umbauten ist es kaum noch bewohnbar.

Ruge: Dass diese Schilderung des Hauses zum Gleichnis wird, habe ich beim Schreiben gespürt und mich darüber gefreut, aber forciert habe ich es an keiner Stelle. Sie werden keinen Satz finden, wo ich das Gebäude in Beziehung setze zur DDR und dem Untergang.

SPIEGEL ONLINE: Im Keller hält der Großvater konspirative Treffen mit seinen Gefolgsleuten ab, das könnte eine Satire auf die Greise im Politbüro sein.

Ruge: Mein Opa unterhielt tatsächlich einen solchen Kellerraum, wo er mit den Genossen seltsame Sachen ausheckte. Aus diesen Untiefen könnten Kellergeister auch heute noch Geburtstagsgrüße an Fidel Castro versenden.

SPIEGEL ONLINE: Mitte der sechziger Jahre erlebt der Vater, wie stalinistische Methoden wieder angewandt werden: Repression statt Aufbruch, eine erstickende Angstkultur. Wie erklären Sie sich, dass er weiter loyal blieb?

Ruge: Mein Vater hatte ja sein Maß an Repressionen ziemlich voll. Er war jahrelang im Gulag und in der Verbannung, er sprach immer von seinem "spät in Gang gekommenen Leben". Er ist mit 39 aus Russland wiedergekommen, hat sich mit ungeheurer Energie einen Platz in der Wissenschaft erarbeitet. Dann war er etabliert, hatte Familie, da wird es dann immer schwerer, das alles zu riskieren.

SPIEGEL ONLINE: Das Diktat der Partei muss aber doch auch intellektuell demütigend gewirkt haben.

Ruge: Ja, aber nach dem 20. Parteitag 1956 gab es erst einmal große Hoffnungen auf einen "wahren Sozialismus". Zugunsten dieses Ziels hat man dann auch mal dieses oder jenes geopfert. Man hat sich mit Teilerfolgen zufriedengegeben, bis man allmählich kapierte, dass es zu nichts führt. Das ist ein langer Prozess, er betraf eine ganze Generation. Der Abschied von den Hoffnungen hat Jahrzehnte gedauert.

SPIEGEL ONLINE: Die Großmutter im Roman kehrt sogar 1952 aus dem Exil zurück, um den Sozialismus in der DDR zu realisieren, obwohl ihr erster Sohn in Workuta ums Leben gekommen ist.

Ruge: Die Rückkehr war die größte Entscheidung im Leben der Romanfigur, sie hatte Erfolg in Mexiko und alle Optionen für ein anderes Leben. Doch dass sie die Entscheidung, in die DDR zu gehen, als falsch angesehen hätte, würde ich bezweifeln. Diese fast schon klassische Verdrängung habe ich auch bei meinen realen Großeltern erlebt, die ja keinen Sohn in der Sowjetunion verloren haben. Mein Vater beschreibt in seinen Lebenserinnerungen, wie seine Mutter sich die Ohren zuhält, als er ihr von der Lagerzeit erzählen möchte: "Ich will das nicht hören!"

SPIEGEL ONLINE: Linientreue aus Verdrängung?

Ruge: Ja, daraus entspringt dann auch ihr späteres Unverständnis, wenn der Sohn ihr vorwirft, sich in den Dienst einer repressiven Sache zu stellen. Sie glaubt fest an das, was sie macht, und versteht nicht, was sie tut. Das war immer meine Absicht: Dass man kapiert, dass Handlungen, die uns heute absurd und auch widerlich vorkommen, zu einer bestimmten Zeit eine Plausibilität hatten. Dass die DDR, ihre Gründer und auch die, die dort blieben, sie nicht verließen, nicht alles feige, verrückte oder böswillige Menschen waren, sondern Menschen, die auf eine bestimmte Weise einer bestimmten Situation unterlegen sind.

SPIEGEL ONLINE: Ihr Roman zeigt, wie aus einem Klima der Repression und der Tabuisierung bestimmter Themen ein großer Familienzusammenhalt entsteht. Lässt sich das auf den Staat DDR übertragen?

Ruge: Ja, Tabus sind wohl kulturgeschichtlich unerlässlich für die Entstehung einer Gesellschaft. Wir sollten nicht denken, wir lebten heute frei von Ideologien. Unsere Ideologie heißt Freiheit. Wir können uns ein Plakat ins Fenster hängen, wo draufsteht: Nieder mit Merkel! Aber versuchen Sie mal, was gegen Ihren Chef zu sagen… Was ich sagen will: Es gibt keine ideologiefreien Räume, auch im Westen nicht. Ideologie ist eine Maske, hinter der Menschen stecken. Wenn man in meinem Roman durch die Maske hindurch die Menschen sieht, wäre mein Ziel erreicht.

Das Interview führte Hans-Jost Weyandt.

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