Buchpreis-Shortlist Günter, hol schon mal die Pfeife

Eugen Ruge, Jan Brandt, Angelika Klüssendorf, Sibylle Lewitscharoff: Die Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2011 wirkt so ausgewogen, als ginge es darum, ein Parteipräsidium zu besetzen - und größtenteils so konservativ, als wäre seit Günter Grass' besten Tagen nichts Neues passiert.

Ein wenig erinnert der Deutsche Buchpreis an die Erziehungsbemühungen bildungsbeflissener Eltern: Lies doch nicht immer nur den Schrott von der Bestsellerliste - lies mal ein gutes Buch! Mögen das Jahr über auch P.C. und Kirstin Cast, Jussi Adler-Olsen oder Rita Falk die Stapel der Buchketten dominieren - wird im Oktober der Buchpreis-Sieger bekannt gegeben, sind es plötzlich Katharina Hacker, Julia Franck oder Uwe Tellkamp, mit deren Titeln der Handel Geschäfte macht. Handwerklich sauber erzählte Romane, bei deren Lektüre man sogar was lernt - man könnte auch "Prädikat wertvoll" dazu sagen. Deutscher Buchpreis klingt natürlich flotter.

So hätte es wohl ewig weitergehen können, hätte die Buchpreis-Jury nicht 2010 beschlossen, alles ganz anders zu machen: Sie vergab den Preis an eine ursprünglich aus Jugoslawien stammende, in der Schweiz lebende Autorin mit kompliziert wirkendem Namen, von der zuvor kaum jemand etwas gehört hatte - das zum staatstragenden Stoff erzogene Lesepublikum war ebenso verwirrt wie ein Teil der Literaturkritik. Melinda Nadj Abonjis "Tauben fliegen auf" blieb in den Regalen liegen.

Wie erklären wir das der Stadtbibliothekarin?

Umso größer der Druck der 2011 auf der Jury lastet - und umso staatstragender die Auswahl, die sie nun für die sechs Titel umfassende Shortlist getroffen hat. Als gelte es, das Präsidium einer Volkspartei zu besetzen, haben sich die Juroren auf eine Liste geeinigt, die so ausgewogen ist, dass einen fast das Entsetzen packen könnte: Drei Frauen, drei Männer. Ossi, Wessi, jung, alt, ein Buch fürs Feuilleton, ein Buch fürs breitere Publikum - fast fragt man sich: Wo sind die Katholiken und die Gewerkschafter geblieben?

Eugen Ruges "In Zeiten abnehmenden Lichts" ist der groß erzählte Familienroman vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, für den Buchpreis-Juroren und Leserschaft, seit die Auszeichnung 2005 erstmals vergeben wurde (an Arno Geiger) ein fast schon traditionelles Faible haben. Taugt gut als Weihnachtsgeschenk (was dem darbenden Buchhandel recht ist). Wirkt seriös, behandelt ein nationales Thema (was "FAZ" und Günter Grass recht ist, dem angeblich beim Zuhören während einer Lesung Ruges die Pfeife ausging). Die Wettquoten für einen Sieg Ruges dürften sich schnell in der Nähe eines Tipps auf die Deutsche Meisterschaft des FC Bayern einpendeln.

Ruge ist bei Rowohlt. Fast klar, dass da der andere, viel interessantere Rowohlttitel auf der zwanzig Bücher umfassenden, schon im August veröffentlichten Longlist, Thomas Melles virtuos komponierter, das Milieu der so genannten Business-Punks (viel arbeiten, noch mehr feiern) sezierender Gegenwartsroman "Sickster" unter den Tisch fallen musste. Bei Melle geht es um Sex, um Drogen, um den psychischen Zusammenbruch - wie erklären wir das der Stadtbibliothekarin in Biberach? Wie wenige andere Romane setzt sich "Sickster" mit Popkultur und sozialer Gegenwart gleichermaßen auseinander. Dass es der Titel nicht auf die Shortlist schaffte, legt den Verdacht nahe, dass die Analyse dessen, was heute passiert, kaum eine Rolle spielt bei dieser Auszeichnung, die das Jahr 2011 zumindest aus chronologischen Gründen im Titel trägt.

Siebziger und Achtziger

Den fast schon klassischen Shortlistplatz für ein im Osten Deutschlands angesiedeltes Buch besetzt Angelika Klüssendorfs in den Siebzigern spielender Kurzroman "Das Mädchen". Auch hier hat sich die Jury für den nahe liegenderen Titel entschieden. Judith Schalanskys wundervoller, ebenfalls auf der Longlist stehender Roman "Der Hals der Giraffe" blieb ohne weitere Erwähnung - womöglich gerade, weil sie darin ohne die üblichen DDR-Klischees auskommt und die Geschichte der Lehrerin Inge Lohmark, die die Welt nicht mehr versteht, so exemplarisch erzählt, dass sie unter anderen Vorzeichen auch anderswo, im Westen beispielsweise, hätte stattfinden können.

Judith Schalansky ist wie Sibylle Lewitscharoff bei Suhrkamp - ein Verlag, der bislang auf fast jeder Shortlist dabei war. Mit Lewitscharoffs "Blumenberg" hat sich die Jury abermals für das geringstmögliche Wagnis entschieden. Ein hochliterarischer Liebling der Feuilleton-Germanisten akademischer Prägung ist schließlich auch auf jeder Liste dabei - und hat den Buchpreis noch nie bekommen. Ähnliches gilt wohl für Marlene Streeruwitz, die bei S. Fischer veröffentlicht und mit "Die Schmerzmacherin" den dritten quasi obligatorischen Startplatz für einen literarischen Großverlag einnimmt. Dass Hanser diesmal gar nicht dabei ist, ist da schon fast eine Überraschung.

Auf dem Außenseiterticket nominiert, höchstwahrscheinlich aber chancenlos ist Michael Buselmeiers autobiografischer, so liebenswerter, wie traditionell erzählter Theaterroman "Wunsiedel". Buselmeier ist 1938 geboren und könnte damit der Vater von Jan Brandt sein. Der ist Jahrgang 1974 und steht mit "Gegen die Welt" ebenfalls auf der Shortlist.

Eine gute Wahl, würde sie bloß nicht so kalkuliert wirken. Ein Titel, der zumindest vage an den Erfahrungshorizont der etwas Jüngeren anschließt, mit seinem Handlungszeitraum, den achtziger Jahren, allerdings noch mehr den Verdacht bestärkt, die Auswahlkriterien für den Deutschen Buchpreis seien, von Streeruwitz abgesehen, vergleichbar mit der Playlist eines Oldieradios: Die Themen der Siebziger und Achtziger - aber bloß nichts von heute.

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