Bücher des Monats Sterben und Verderben, alles in der Nachbarschaft

Buchthema Demenz: "Man weiß nicht, wo man ist"
Foto: CorbisIn jenem verheerenden Sommer 1944: Philip Roths "Nemesis"
Im Osten Europas läuft die Vernichtungsmaschinerie der Nazis auf Hochtouren, in der französischen Normandie sterben amerikanische Soldaten beim D-Day wie die Fliegen. Und auf der anderen Seite des Atlantiks? Auch dort hält in diesem Juni 1944 plötzlich die fatale, endgültige und unausweichliche Kraft des Todes Einzug: An den ersten schwülen Sommertagen wird die amerikanische Stadt Newark von einer Polioepidemie heimgesucht. Erst sind es nur die Elendsquartiere der "Itaker", die von dem Virus befallen werden, gegen den es in dieser Zeit noch kein Gegenmittel gibt. Doch dann breitet sich die Seuche auch im kleinen jüdischen Viertel Weequahic aus - obwohl doch alle oder fast alle Bewohner ein gottgefälliges Leben führen.
Zum wiederholten Male kehrt Philip Roth mit "Nemesis" zum Ort der eigenen Kindheit zurück, in die kleine enge jüdische Lebenswelt von Newark, wo er selbst in jenem verheerenden Sommer 1944 elf war, also ziemlich genauso alt wie die meisten der Jungen, die in seinem neuen Roman an Polio erkranken. Doch weg ist auf einmal der alte Roth-Sound, in dem sich sonst sexuelle Verzweiflung und intellektuelle Überheblichkeit, Scham und Hass zu einem virtuosen Greinen vereinen. Zorn allerdings, das sagt ja schon der Titel, wird auch in diesem klug komponierten Nachbarschaftsdrama im Schatten von Weltkrieg und Holocaust reichlich versprüht. Aber eben ein höchst gerechter Zorn.
Denn im Mittelpunkt der Erzählung steht ein denkbar aufrechter Charakter: Bucky Cantor konnte wegen eines schweren Augenfehlers nicht an die Front, überwacht aber mit umso größerer Disziplin den Sportplatz einer Highschool. Die Jungs, denen er Speerwerfen und sportliche Fairness einbläut, verehren ihn. Als jedoch einer nach dem anderen zu sterben oder zum Krüppel zu werden droht, lernt dieser grundgütige Kraftprotz seinen Gott zu hassen.
Wie wenig dieser Bucky auf den ersten Blick ins Roth'sche Figurenpersonal zu passen scheint, lässt sich verdeutlichen, indem man noch einmal den Helden aus seinem vorletzten Roman "Empörung" vor Augen ruft: Der war ungefähr gleich alt, rieb sich auf dem College zwischen Ehrgeiz, Onanie und Welthass auf. In seinem Sterbe-Tableau "Nemesis" nun findet Roth zu einem entschlackten Stil, durch den er auf Tuchfühlung mit dem Helden geht, ohne sich jemals über ihn zu mokieren.
Es dauert eine Zeit, bis einem beim Lesen dämmert, dass uns der gelegentlich zum Manierismus neigende Schriftsteller mit seiner uneitel renovierten Sprache dann doch einen eigentlich typischen Roth-Helden nahebringen will: Denn mindestens genauso sehr wie alle anderen ekelt es diesen Mustermann an Bescheidenheit dann doch irgendwann, als er feststellen muss, in was für eine Welt ihn sein Gott geworfen hat. Christian Buß
Die Kunst des Porträtisten: Arno Geigers "Der alte König in seinem Exil"
In diesem außergewöhnlich offenen Buch, das vielfältige Zugänge erlaubt, befindet sich ausgerechnet am Haupteingang, dem Titel, eine Schwelle, die mit Vorsicht zu nehmen ist. Mit schön gesetztem, altvertrautem Klang scheint er in die sicheren Gefilde des anschaulich abgeschlossenen Erzählens zu führen - und damit in die Irre, verhüllt zugleich die schutzlose Hauptfigur und ihr nacktes Leid wie mit einem Purpurmantel - und nähert sich mit dieser Täuschung doch dem Zentrum des Buchs, das nicht zuletzt von Orientierungsverlust, von enttäuschten Hoffnungen und unüberschreitbaren Grenzen handelt. Und schließlich ist dieser Titel hoch riskant.
Denn mit dem alten König ist der Vater des Autors gemeint und mit dem Exil dessen Alzheimer-Erkrankung. Und wenn es schon bestenfalls in holterdipolternden Geburtstagsversen gelingt, den Papa zu krönen, ohne ihn, pardon, zu verhöhnen, so bilden König und Narr in Personalunion eine klassische Spottfigur mit erheblichem Diffamierungspotential. Dass es an keiner Stelle das Porträt des August Geiger verätzt, verdankt sich der Kunst des Porträtisten, der nach dem Titel auf die Zaubermittel aus dem Wortspielkasten verzichtet und mit möglichst einfachen Worten berichtet, erzählt, dokumentiert, reflektiert.
Dieser Erzähler ist unverkennbar Arno, der Sohn, eines von vier Geschwistern, denen er sich ebenso verpflichtet fühlt wie der Mutter, die getrennt von ihrem Mann lebt, aber im Notfall stets aus Wien anreist, und den slowakischen Frauen, die den Dementen rund um die Uhr versorgen. Häufig wechselt der Autor aus dem "ich" in das "wir", und selten dürfte die erste Person Plural eine ähnlich selbstverständliche Triftigkeit entfaltet haben wie bei dieser Stimme der Geigers, für die der vielfach ausgezeichneten Romancier ("Es geht uns gut", "Alles über Sally") die Aufgabe des Familienschreibers übernimmt: klar, transparent, diskret. Und wäre die Nachbarschaft zum wackeren Biedersinn nicht so eng, so müsste man den Chronisten "redlich" nennen - eine Eigenschaft, die nicht zuletzt August Geiger besonders geschätzt haben dürfte und - wer weiß - immer noch schätzt.
Eindringlich knapp skizziert der Sohn das Leben des 1926 als drittes von zehn Kindern in eine Kleinbauernfamilie geborenen Mannes, dem die Welt gleichbedeutend ist mit seinem Heimatdorf Wolfurt nahe Bregenz - und die Lebensführung geprägt von der Genügsamkeit seiner beschwerlichen Kindheit. Seiner kauzigen Liebenswürdigkeit zum Trotz erleben Frau und Kinder die Anspruchslosigkeit zunehmend als sozialen Affront, der die Familie erstarren lässt. Dass erst die Sorge um ihn und seine Krankheit das Miteinander wieder belebt, ist eine Pointe des Buchs, so bitter-traurig, tröstend schön wie einer jener in ihrer luftigen Unergründlichkeit verblüffenden August-Geiger-Sätze: "Das Leben ist ohne Probleme auch nicht leichter." Unergründlich ist dabei auch, aus welchen Tiefen diese federleichten Gebilde aufsteigen und für wen sie bestimmt sind.
"Als wäre man aus dem Schlaf gerissen", versucht der Sohn, sich die Alptraumwelt seines Vaters vorzustellen: "Man weiß nicht, wo man ist, die Dinge kreisen um einen her, Länder, Jahre, Menschen. Man versucht sich zu orientieren, aber es gelingt nicht. Die Dinge kreisen weiter. Tote, Lebende, Erinnerungen, traumartige Halluzinationen, Satzfetzen." Je mehr diese kreisenden Dinge schwinden, so der entsetzliche Trost, umso größer werden die Ruhephasen für August Geiger sein. Und dieses bewegende Buch, das dem Vergleich mit den großen Vater- und Mutterporträts von Handke, Genazino, Widmer und Delius standhält, enthält das Versprechen, ihm wie einem König auf seinem Weg ins grenzenlose Asyl so weit wie möglich Geleitschutz zu geben. Hans-Jost Weyandt
Dorfkomödie in Champagnerlaune: Silvia Bovenschens "Wie geht es Georg Laub?"
Von allen Rückzugsorten ist der alte Berliner Westen wohl einer der ausgefallensten. Doch selbst hier wird man entdeckt: Als sich Georg Laub in ein geerbtes Häuschen irgendwo am kleinbürgerlichen Rand der Hauptstadt flüchtet, um dort nach den Maßstäben eines selbst auferlegten "Verkargungsprogramms" zu leben, dauert es nicht lange, bis Medienleute und die Ex-Freundin ihm auf der Spur sind, die neugierige Öffentlichkeit auf Facebook über sein Verbleiben spekuliert.
Denn Laub, Anfang vierzig, in einer Lebens-, Schreib- und Auftragskrise, war fast mal prominent, damals, Ende der Neunziger, als "Schriftsteller sich im Austausch von Informationen über Bordelle in Hanoi oder Wladiwostok gefielen".
"Wie geht es Georg Laub?" ist kein Schlüsselroman - aber einige der Bezüge sind offensichtlich: Irgendwie könnte dieser Laub etwas mit Popliteraten wie Christian Kracht oder Benjamin von Stuckrad-Barre gemein haben, irgendwie könnte dieses Blatt, für das seine Ex-Freundin nun arbeitet, auch "Vanity Fair" heißen. Den smarten, leichtherzig eleganten Ton, den Bovenschen anschlägt, hat man in diesem und ähnlichen Magazinen allerdings meist vergeblich gesucht.
"Wie geht es Georg Laub?" ist der in der deutschsprachigen Literatur äußerst seltene Fall einer intellektuellen Dorfkomödie in Champagnerlaune - und das, obwohl hauptsächlich Bier getrunken wird. Ihre Spannung bezieht sie aus dem Kontrast der Trübseligkeit von Laubs Dasein, das aus Kneipenbesuchen, sporadischen Liebschaften und Arztbesuchen besteht, und der treffsicheren, leicht spöttischen Ironie der Wissenschaftlerin und Essayistin Bovenschen.
Die Antwort auf die Frage im Titel kann also nur eine sein: Wie es Laub geht? Na ja. Leser und Buch allerdings - die sind wohlauf. Sebastian Hammelehle