Thriller "Capitana" Alleinerziehende Mutter und Chefin der Gang
Mit einer Machtdemonstration beginnt Melissa Scrivner Love ihren Roman "Capitana": Marcos, hartgesottener Lieutenant der Crenshaw Six, einer aufstrebenden Latino-Gang in South Central, Los Angeles, lässt sich von den anderen Gangmitgliedern nach Strich und Faden verprügeln. Ohne sich zu wehren, ohne zu klagen, ohne Racheschwüre.
Diese Aktion mag in Gangkreisen keine außergewöhnliche Strafe für Fehlverhalten sein. Alles andere als gewöhnlich aber ist, dass sie von einer Frau angeordnet wurde. Einer kleinen, drahtigen Mittzwanzigerin in Cargohose und geripptem Achselhemd. Sie heißt Lola Vasquez, ist alleinerziehende Mutter und Anführerin der Crenshaw Six. Und ziemlich skrupellos, wenn es darum geht, ihr Ziel zu erreichen, ein Big Player im kalifornischen Drogenbusiness zu werden.
Die Geschichte vom Aufstieg eines kleinen Ganoven zum Boss einer Gang wurde im Kino und in der Literatur schon häufig erzählt. Aber vielleicht noch nie so wie von Melissa Scrivner Love, noch nie aus der Sicht einer Latina, die sich bei ihrer kriminellen Karriere gegen gesamtgesellschaftliche Widrigkeiten - Stichwort struktureller Rassismus - ebenso stemmen muss wie gegen die Vorurteile in ihrer Community, in der Frauen meist wenig zu entscheiden haben.
Für ihre Gemeinde spielt sie die Wohltäterin
Lola ist eine Art weibliche Antwort auf Scarface, Al Capone und all die anderen harten Kerle aus einfachen Verhältnissen, die ganz schnell nach ganz oben wollten - und dort angekommen feststellten, dass es nicht nur einsam ist an der Spitze, sondern auch verdammt gefährlich. Erfunden hat sie die US-Autorin Melissa Scrivner Love, die bislang vor allem fürs Fernsehen geschrieben hat, unter anderem für die erfolgreiche Hightech-Thriller-Serie "Person of Interest". Scrivner Loves Romandebüt "Lola" erschien 2017 in den USA, zwei Jahre später in Deutschland, mit "Capitana" liegt jetzt die Fortsetzung vor - und das in einer sehr guten Übersetzung.
Im vorigen Band "Lola" erzählte Scrivner Love von dem Aufstieg ihrer Titelheldin, die schon länger bestimmt hatte, was läuft bei den Crenshaw Six, die sich aber lange nicht traute, dies offen zu tun. Doch als es darum ging, das Territorium der Gang zunächst zu verteidigen und dann auszubauen, trat sie nach vorn. Am Ende hatte Lola die Konkurrenz eliminiert und eine lukrative Allianz mit einer korrupten Staatsanwältin geschlossen - aber auch ihren Bruder für einen Mord in den Knast gehen lassen, den sie selbst begangen hatte.
Capitana: Thriller (suhrkamp taschenbuch)
Preisabfragezeitpunkt
25.03.2023 22.44 Uhr
Keine Gewähr
Zwei Jahre sind seitdem vergangen, eine Zeit, in der Lola ihre Führungsqualitäten unter Beweis gestellt und ihre Macht gefestigt hat. Innerhalb der Gang und innerhalb des umkämpften Drogenmarkts in Los Angeles. Scheinbar ist Ruhe eingekehrt in Lolas Leben, sie kümmert sich liebevoll um ihre Adoptivtochter Lucy, sogar für ihre eigene Mutter, die Lola, als sie noch ein Kind war, von Männern missbrauchen ließ, um sich ihre Drogensucht zu finanzieren, steht ihre Tür offen. Und - wie jeder schlaue Kriminelle - spielt sie für ihre Gemeinde die Wohltäterin.
Ein Krieg - aber warum?
Idyllischer als zu Beginn von "Capitana" kann das Gangsterleben kaum sein, aber natürlich ist der Frieden nicht von Dauer. Lola will einer schwangeren Frau helfen, deren brutaler Ehemann demnächst aus dem Gefängnis kommen soll. Die Frau hat Angst um ihr Leben, Lola verspricht, den Mann umbringen zu lassen. Ihr Bruder erledigt den Job zügig - nur stellt sich heraus, dass das Ganze eine Falle war: "Lola versteht. Sie hat einen Mann namens Paulo Cortes getötet, einen der Gründer des Rivera-Kartells. Lola hat getan, was Männer tun. Sie hat einen Krieg angefangen. Sie weiß nur nicht, warum."
Wenn sie dieses "Warum?" beantworten kann, glaubt Lola, kann sie den Krieg noch verhindern. Die Gangleaderin wird zur Detektivin, während ihrer Ermittlungen entpuppen sich Gewissheiten als Chimären, Verbündete als Feinde. Und Lola muss immer wieder aufs Neue beweisen, wie tough sie ist. Doch mit jeder gewalttätigen Auseinandersetzung wird auch die Flexibilität ihrer Moralvorstellungen weiter getestet.
Bei aller Action, von der "Capitana" lebt: Die eigentlich spannende Frage ist, ob die Heldin am Ende vollkommen korrumpiert sein wird - oder zumindest noch einen Funken von Ehre besitzt.
Bisher "nur Latinos, die Latinos umbringen"
Man kann den Roman als implizite Kritik an einem korrupten System lesen, das vielen Menschen keinen anderen Ausweg bietet als die kriminelle Laufbahn, ein System, das Menschen wie Lola hervorbringt, denen längst nicht mehr klar ist, ob es einen Unterschied macht, ob sie für eine Bank, einen Hightechkonzern oder eben ein Drogenkartell arbeiten.

Podcasts, Videos, Interviews mit Schriftstellern und Rezensionen. In der SPIEGEL-BESTSELLER-Buchwoche bieten wir ein umfangreiches Programm zum Bücherherbst - hier das ganze Programm.
Oder ist Lola einfach eine Karriereverbrecherin, deren vorgebliche Skrupel und gute Taten letztlich nur einen Mangel an Gewissen tarnen? Diese Frage schwingt in "Capitana" permanent mit, und sie unterscheidet den Roman von den meisten Geschichten über männliche Gangster, die Scrivner Love intelligent auf links dreht.
Dabei beweist sie immer wieder einen erfrischend bösen Sinn für Humor: Nachdem Lola in eine Schießerei gerät, die normalerweise von der Polizei ignoriert würde, weil es "eben nur Latinos, die Latinos umbringen" waren, hat sich der Wind aufgrund aktueller Rassismusvorwürfe gegen die Polizei inzwischen gedreht, ein Detective ermittelt intensiv: "Grundsätzlich hat Lola nichts gegen diese Art der Polizeiarbeit, auch wenn ihr lieber wäre, wenn der neue Antirassismus nicht gerade ihr ins Gesicht blasen würde."