Großer Kalifornien-Krimi Sie will Rache – und wenn es das Letzte ist, was sie tut

Abend in Kalifornien: Mehr als die Kulisse für die zahllosen Dramen
Foto:Feifei Cui-Paoluzzo / Getty Images
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Eine Waffe in der Hand, einen zu großen Cowboyhut auf dem Kopf und ein Herz voller Rache. Die 13-jährige Duchess bricht auf, um denjenigen zu richten, den sie für den Mörder ihrer Mutter hält. Doch das passiert erst spät in diesem Roman mit dem zunächst rätselhaften Titel »Von hier bis zum Anfang«. Bis dahin geschieht eine Menge mehr, fast schon zu viel für einen einzigen Roman. Der Schriftsteller Chris Whitaker mischt Krimihandlung mit Gerichtsdrama, erzählt eine Coming-of-Age-Geschichte und von einer Liebe, die ein halbes Leben braucht, um Erfüllung zu finden.
Vor allem aber erzählt Whitaker, wie die meisten guten Krimiautoren, nicht nur von einem Verbrechen und seiner Aufklärung, sondern vor allem davon, wie sehr ein Verbrechen die Hinterbliebenen, seien es Verwandte oder Freunde und manchmal sogar fast Fremde, für den Rest ihres Lebens nicht mehr loslässt, wie die Wunden allzu langsam heilen. Und davon, wie selbst Menschen, die damals noch gar nicht auf der Welt waren, zu Opfern werden können.
Und das bringt uns wieder zu Duchess. Diesem zornigen, verletzlichen, sensiblen, zu früh erwachsen gewordenen Mädchen, das sich so unversöhnlich gibt, fast schon asozial: »Wenn du noch einmal was über meine Familie sagst, schneid ich dir den Kopf ab, du Arschloch«, droht sie einem Mitschüler. Duchess wächst ohne Vater auf, dafür mit ihrer dysfunktionalen Mutter Star, die sich in miesen Bars mit noch mieseren Typen einlässt, und mit ihrem fünfjährigen Bruder Robin, für den sie eine Art Mutterersatz sein muss.
Das Leben in der fiktiven kalifornischen Küstenstadt Cape Haven, Urlaubsparadies und Gentrifzierungsobjekt, wird überschattet von einem 30 Jahre zurückliegenden Mord: Vincent King, ein beliebter Teenager, hatte seine Freundin Sissy umgebracht – Stars Schwester. Jetzt, nach drei Jahrzehnten, kommt Vincent aus dem Gefängnis frei, kehrt zurück nach Cape Haven. Und als bald darauf Star ermordet wird, scheint klar zu sein: King hat vollendet, was er einst begonnen hatte.
Nur ein Mann ist von Kings Unschuld überzeugt: Chief Walker, der Sheriff von Cape Haven, ein übergewichtiger, schmerzmittelabhängiger Cop mit einem großen Herzen: »Er war weich wie Wackelpudding. Weiches Lächeln, weicher Körper, weiche Weltsicht«, charakterisiert ihn Duchess. Wer die Serie »Stranger Things« gesehen hat, kann sich Walker wie Sheriff Jim Hopper vorstellen, also zunächst einmal nicht gerade als strahlenden Helden. Walkers Chancen, King zu rehabilitieren, sind entsprechend minimal. Zumal der Polizist sich parallel um Duchess und Robin sorgt.

Autor Whitaker: Vier Romane hat er veröffentlicht
Foto: David Calvert / PiperChris Whitaker ist Engländer, doch dass er seinen Roman in den USA, an der Küste Kaliforniens und später in den leeren Weiten Montanas ansiedelt, ist nur konsequent, seine Figuren und ihre Geschichten funktionieren nur vor diesem Hintergrund, im Breitwandformat. Denn Walker und Duchess, Star und Riley sind die Nachfahren amerikanischer Prototypen, Westernfiguren eigentlich.
Erkundung zerklüfteter Seelenlandschaften
Der aufrechte Sheriff, sein bester Freund, der die Seiten gewechselt hat, die gefallene Frau, die im Rausch Vergessen sucht, das junge Mädchen, das sich (fast) allein durchschlagen muss. Whitaker verbeugt sich auch vor Charles Portis und seinem legendären Westernroman »True Grit«, der hierzulande vor allem durch die Verfilmung der Coen-Brüder bekannt wurde. Auf jeden Fall ist Duchess eine heutige Wiedergängerin der toughen Mattie Ross, die ihren ermordeten Vater rächen will – und wenn es das Letzte ist, was sie tut.
Man kann Whitaker vielleicht vorwerfen, wie es die Schriftstellerin Liz Moore, die vergangenes Jahr mit »Long Bright River« einen Roman von vergleichbarer emotionaler Wucht geschrieben hatte, kürzlich in der »New York Times« getan hat , dass Whitakers Amerika nicht viel mehr ist als die Kulisse für die zahllosen Dramen. Aber Whitaker geht es nicht um Topografie, sondern um die Erkundung zerklüfteter Seelenlandschaften. Und die Ernsthaftigkeit, mit der er die Verwundungen seiner Figuren literarisch auslotet, an ihren Narben entlang erzählt, erzeugt einen enormen Sog.
Eine Ernsthaftigkeit, die viel damit zu tun hat, dass Schreiben für Whitaker immer auch Selbsttherapie ist. Als junger Mann wurde er Opfer eines Messerangriffs, schrieb er in einem Beitrag für den »Guardian« ; ein Ereignis, das ihn aus der Bahn geworfen habe. Es folgten Alkohol, Drogen, Selbstmordgedanken. Das Schreiben habe ihm dabei geholfen, aus dem Loch zu kommen.
Vier Romane hat er seitdem veröffentlicht, »Von hier bis zum Anfang« ist der dritte und der bisher einzige, der auf Deutsch erschienen ist. Seine Geschichten kreisen um Gewalt und Mord und Verzweiflung. Menschen, das zeigt Whitaker aber auch, sind nicht böse. Nur tun sie manchmal schlimme Dinge, weil sie verzweifelt sind und einsam.
Am Ende auch dieses Romans wird es, wenn auch vielleicht keine Erlösung, so doch Anlass zur Hoffnung geben. Hoffnung darauf, dass ein Leben, das vorgezeichnet zu sein scheint, sich zum Guten wendet. Hoffnung, dass jahrzehntealte Wunden endlich heilen. Hoffnung auf einen neuen Anfang.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Textes wurden an zwei Stellen Namen von Protagonisten verwechselt. Wir haben das korrigiert.