Buchautor Christian Baron "Die 'einfachen Leute' sind eben sehr kompliziert"

Christian Baron wächst in einem Milieu auf, das von Armut, Alkoholismus und Gewalt geprägt war - sein Buch "Ein Mann seiner Klasse" handelt davon. Was hat seine Geschichte mit dem Erfolg der AfD zu tun?
Ein Interview von Arno Frank
Autor Christian Baron: "Literarische Bearbeitung meiner Herkunft"

Autor Christian Baron: "Literarische Bearbeitung meiner Herkunft"

Foto: Hans Scherhaufer/ Hans Scherhaufer/ Ullstein Verlag
Zur Person

Christian Baron wurde 1985 in Kaiserslautern geboren. Er studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Germanistik in Trier. 2016 erschien sein Sachbuch "Proleten, Pöbel, Parasiten. Warum die Linken die Arbeiter verachten". Nach Stationen bei der Lokalzeitung "Die Rheinpfalz" und dem "Neuen Deutschland" arbeitet er seit 2018 als Redakteur bei der Wochenzeitung "Der Freitag". Dort veröffentlichte er unter der Überschrift "Ein Mann seiner Klasse" einen Text über seinen Vater. Dieser Artikel und die Reaktionen darauf gaben den Anstoß zu dem gleichnamigen autobiografischen Buch, das gerade im Claassen Verlag erschienen ist.

SPIEGEL: Herr Baron, in Ihrem Buch "Ein Mann seiner Klasse" erzählen Sie die Geschichte einer Kindheit, die vom Alkoholismus und der Gewalt des Vaters gekennzeichnet ist - es ist Ihre eigene.

Christian Baron: Das Buch ist eine autobiografische Erzählung, eine literarische Bearbeitung meiner Herkunft. Ich wollte mit größtmöglicher Wahrhaftigkeit an diese Sache herangehen. Auch auf eigene Kosten oder jene der Leute, die noch leben.

SPIEGEL: Ihr Vater spielt in dem Buch eine zentrale Rolle. Sie schildern ihn als Prolet, aber auch als klassischen Proletarier.

Baron: Er hat sein Leben lang malocht, war nie arbeitslos und darauf auch stolz.

SPIEGEL: Also hatte er ein Klassenbewusstsein.

Baron: Aber wiederum auch nicht so, wie die Marxisten das gern hätten und daraus den Sozialismus gestrickt haben. Wie es in anderen sozialen Schichten verbreitet ist, hat mein Vater auch nach unten getreten und nach oben gebuckelt: "Ich gehe hier immer arbeiten, kann aber von meiner Hände Arbeit nicht leben".

SPIEGEL: Das ist eine Klage, noch kein Tritt.

Baron: Tatsächlich liegen mir sogar Videoaufnahmen von Szenen vor, in denen mein Vater rassistisch spricht. Er hat als Möbelpacker manchmal Sachen mitgehen lassen, und dazu gehörte diese Videokamera. In der Szene sagt er: "Diese Asylanten da, die bekommen doch alles!" Das war noch vor 2015. Heute ist es eher eine Facharbeiterschaft, die auch die eigentliche Basis der AfD bildet, von der man solche Sätze zu hören bekommt.

SPIEGEL: Warum richtete sich die Aggression Ihres Vaters gegen sich selbst, gegen seine Familie?

Baron: Wogegen sonst? Als seine eigentlichen Feinde betrachtete er die Leute, die in den "asozialen Vierteln" lebten und gar nicht arbeiteten. Jene, die sozial noch eine Stufe tiefer standen. Dort, wo er nie landen wollte. Genau das macht meinen Vater zu einer sehr heutigen Figur.

SPIEGEL: Inzwischen ist Ihr Vater gestorben.

Baron: Nachdem ich meinen Vater jahrelang verdammt hatte, geriet er mir im Buch ein wenig zu positiv; vielleicht auch wegen seines Tods. Mein Bruder sagte: "Du darfst den Vater nicht idealisieren". Da haben wir uns dann auch dieses Video noch einmal angeschaut. Das hat mein Bild von ihm verunklart, ihn aber auch realistischer gemacht in all seinen Widersprüchen.

SPIEGEL: "Ein Mann seiner Klasse" behandelt Klassenbewusstsein, aber auch Hinweise auf eine Männlichkeit, die heute gern als toxisch bezeichnet wird – als schädlich auch für die Männer selbst.

Baron: Das stimmt, und das ist so. Ich glaube, da habe ich auch dem modernen Feminismus viel zu verdanken. Letztlich hat die Deklassierungserfahrung den Frust meines Vaters verstärkt und damit seinen Alkoholismus begünstigt. Und seine Gewalt.

SPIEGEL: Ihnen selbst ist gelungen, was Sie mehrmals als "Bildungsaufstieg" bezeichnen. Ist eine solche Klassenflucht nicht notwendigerweise Klassenverrat?

Baron: Das ist ein Dilemma, stimmt. Das wird im Buch auch thematisiert, diese seltsame Mischung aus Neid und Stolz meiner formal weniger gebildeten Umgebung gegenüber dem "Aufsteiger". Die Frage wäre, wie man nach dem Aufstieg auf die Klasse seiner Herkunft blickt.

SPIEGEL: Bestenfalls ist es ein recht exklusiver Blick von innen.

Baron: Das wäre es, was meine besondere Sprechposition zu diesem Thema ausmacht.

SPIEGEL: Thematisch und stilistisch erinnert Ihr Schreiben an französische Vorbilder wie Didier Eribon oder Éduard Louis, die in Ihren Büchern ebenfalls die eigene Arbeiterherkunft verarbeiteten. Fehlt ein solches soziales Erzählen in Deutschland?

Baron: Louis ist ein Vorbild. Es gibt eine große Ratlosigkeit über den Aufstieg der Rechten, den zu einem gewissen Teil auch die Linken zu verantworten haben. Böse könnte man sagen, die sogenannte liberale Elite habe die sogenannten einfachen Leute vergessen. Das hat sich über die Jahre noch dramatisiert.

SPIEGEL: Was meinen Sie damit?

Baron: Es gibt nur noch Extrempositionen. Da werden einerseits bis in die FDP hinein die "einfachen Leute" als die Edelmütigen und Fleißigen gezeichnet. Die andere Seite ist vor allem bei Twitter zu finden, wo die "einfachen Leute" als Ansammlung chauvinistischer weißer Leute beschrieben werden, die nichts anderes kennen als den Hass.

SPIEGEL: Diese Spaltung ist bereits Gegenstand soziologischer Betrachtungen. Welchen Vorteil bietet da eine literarische Bearbeitung?

Baron: Sie ermöglicht es, Zwischentöne zuzulassen. Die "einfachen Leute" sind weder das eine noch das andere. Sie sind, wie alle Menschen, sehr kompliziert. Damit müssen wir uns auseinandersetzen, auch in der Politik. Wenn man das nicht tut, gibt es überhaupt keine Chance mehr, am Aufstieg der Rechten etwas zu verändern.

SPIEGEL: Warum?

Baron: Die haben die einfachen Erzählungen, die viel besser greifen. Besser jedenfalls als die Verdammung jener Leute, die wir als Linke doch eigentlich auf unserer Seite haben wollen. Das kann gar nicht funktionieren. Wenn ich ein größenwahnsinniges Ziel formulieren dürfte, wäre es ein besseres Verständnis dieser "einfachen Leute" in der sogenannten Kulturelite – die Bücher wie meins liest. Es müssten mehr Menschen solche Geschichten aufschreiben. Nicht nur als Sachbuch, sondern als autobiografische Erzählung von "unten".

SPIEGEL: Wobei das Buch völlig frei ist von politischen Botschaften.

Baron: Das war mir wichtig. Die haben der Literatur noch nie gutgetan, das ist ja auch einer der Gründe, warum wir vom sozialistischen Realismus nichts mehr wissen wollen. Ich wollte nur der Kraft des Erzählens vertrauen.

SPIEGEL: Worin liegt die genau?

Baron: Ich habe aus meinen eigenen Lektüren gelernt, dass mich Literatur eine Empathiefähigkeit gelehrt hat. Nur Empathie ermöglicht uns, die Kompliziertheit der Dinge zu begreifen.

SPIEGEL: Das klingt paradox.

Baron: Aber genau darum geht’s. Diese Geschichten sind kein Selbstzweck oder Träger politischer Botschaften. Sie sagen aber etwas über unsere Gesellschaft aus. In der Literatur liegt doch die größte Wahrheit immer in der Fiktion.

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