Christian Kracht in Frankfurt Blutspur des Bösen

Christian Kracht in seiner Vorlesung
Foto: Lecher/ Goethe-UniversitätNach der Pflicht seiner Vorlesungen (Lesen Sie hier, wie der erste Teil der Poetikvorlesung war) ist der abschließende Auftritt von Christian Kracht im Literaturhaus Frankfurt die Kür. Der Schriftsteller hat sich für eine Lesung aus seinem jüngsten Roman entschieden. Darin geht es unter anderem um eine hoffnungsvolle Schauspielerin, die im Hollywood der Dreißigerjahre am Set sexuell belästigt wird: "Sie möchte schließlich ein Star werden, und das gehört leider dazu".
Es ist einer von vielen Sätzen in seinem Werk, die nach Christian Krachts drei Vorlesungen zur Poetik in Frankfurt anders gelesen werden müssen. Verschwunden ist die sarkastische Kälte, mit der hier ein Dandy schulterzuckend eine Wahrheit ausspricht. Zum Vorschein gekommen ist ein Mensch, der selbst "Me too" gesagt hat - und das als einen Schlüssel zu seinem Werk verstanden wissen will.
Kracht, der manchen Kritikern als suspekter Meister der Uneigentlichkeit galt, ist dabei auf das Eigentliche zu sprechen gekommen. Das ist nicht ungefährlich. Der Regisseur Werner Herzog fasste seine Skepsis gegen allzu tiefes Schürfen einmal mit den Worten zusammen: "Ein Haus, dessen dunkelste Winkel hell ausgeleuchtet sind, wird unbewohnbar". Kracht hat es offenbar gewagt.
Angeregt durch die #MeToo-Debatte und Berichte über Missbrauchsfälle an dem kanadischen Internat, das er als Kind besuchte, hat er sozusagen nach der Taschenlampe gegriffen, ist in den Keller gestiegen - und hat die dunkelsten Winkel seiner Seele ausgeleuchtet. Dort entdeckte er das geprügelte "Kind Christian" mit heruntergelassenen Hosen, hinter dem sein Peiniger, "wie ich heute annehmen muss", sich selbst befriedigte.
Der Mut des Sprechenden
Das öffentliche Sprechen über eine solche Erfahrung dürfte einem arrivierten Zausel von 51 Jahren nicht leichter fallen als der hoffnungsvollen Schauspielerin. Zumal in den öffentlichen Reaktionen darauf das übliche Schema zu erkennen war. Eine Mehrheit zeigte sich berührt vom Mut des Sprechenden, erschüttert vom Empörenden der Tat.
Es gab aber auch Stimmen, die einen Vorbehalt geltend machten. War das nicht ein weiterer Schritt zur Selbstinszenierung als großschriftstellernder Schmerzensmann? Wo bleiben die Beweise? Literaturkritiker Hubert Winkels meinte im Deutschlandfunk, ihm sei das "Bekenntnis" einer solchen frühen Vergewaltigung im Rahmen ästhetischer Überlegungen "zu intim", zu "obskur" und "irgendwie nicht objektivierbar". Kein Wunder, stellt Krachts Erklärung doch die bisherige Rezeption seiner Bücher auf den Kopf.
Im ultravioletten Licht der Wahrheit wird plötzlich eine Blutspur des Bösen erkennbar, die sich schon immer durch sein Werk gezogen hat. Die Auslöschungssehnsucht seiner Helden, ihre menschenfeindliche Langeweile. Der Flirt mit dem Totalitarismus. Eine altertümliche Ästhetik, der alles Moralische oder Politische untergeordnet ist. Keine Ironie. Der meinte das ernst.
Tatsächlich hat der Schriftsteller in der Vergangenheit die Bewunderung wie das Unbehagen an seinem oft zynischen Ton durch Kommentarlosigkeit noch befeuert. Nun offenbarte er sich nicht in einem Interview mit dem "Stern", bei Markus Lanz auf der Couch oder im Büro eines Staatsanwalts - sondern in einer Vorlesung, in der er die Grundlagen seines Schreibens zu erläutern versuchte. Grundlagen also, die ohne die beschriebene Urszene nicht zu erklären sind.
Dabei objektiviert er seinen Weg zur Genesung keineswegs, im Gegenteil. "Das hast du dir eingebildet!", soll die Mutter gesagt haben, und er glaubte es sich bald selbst nicht mehr. Dennoch machte er den Vorfall auf seine ganz subjektive Weise fruchtbar. So erzählte er in Frankfurt von privaten Fluchten in die Welt des J. R. R. Tolkien und die lesebiografische Zurüstung mit Thomas Pynchon, Gertrude Stein, V. S. Naipaul - mit Bildung.
Der ganze Mann ein einziges Nahebringenwollen
Kracht scheint es einerlei zu sein, ob sein Schritt andere Betroffene ermutigt. Auch hat er keine Bestrafung der Verantwortlichen im Sinn, keine Geste später Anklage und auch nicht das Mitgefühl der Öffentlichkeit. Ihm war, zumindest an dieser Stelle, jeder Furor merkwürdig fremd. Der richtete sich eher gegen Journalisten, die in ihm einen "Faschisten" hatten erkennen wollen.
Die eigentliche Selbstauskunft lag denn auch in seinen Exkursen zum Religiösen, im ausführlichen Rezitieren von T. S. Eliot und Allen Ginsberg, in Originalsprache und mit weicher, schwelgerischer Stimme. Der ganze Mann ein einziges Nahebringenwollen. Das muss man nicht mögen, und es ist nicht zu verallgemeinern. Für sich in Anspruch nahm Kracht, kein Opfer zu sein - sondern der Autor seiner eigenen Erzählung: "Die Heilung für den Missbrauch ist immer die Kunst".
Und so sitzt er auch an diesem Abend im Literaturhaus wie staunend über seiner eigenen Literatur. Und liest. Und liest, beinahe anderthalb Stunden. Es liest sich neu, denn es ist ausgeleuchtet. Ob es bewohnbar bleibt, wird sich zeigen.