Männer in der Midlife Crisis Die Sehnsucht nach der vergangenen Frau
Spätestens als dem Erzähler in einer Berliner Villengegend eine Krähe über den Weg fliegt, die er "Lisa" nennt, er ihr hinterher radelt, bis sie in einem Baum zu einem Haus gegenüber nickt, wo laut Gedenktafel der große Dadaist Richard Hülsenbeck ein paar Jahre lebte, was für den Erzähler die Erleuchtung ist, auf die er wartete - spätestens dann ist klar: Der Haschmich dieses Typen ist enorm, aber harmlos.
Der, der diesen Erzähler in "Der letzte Huelsenbeck" so liebevoll porträtiert als einen Mann im Endstadium seiner geistigen Kräfte ist Christian Y. Schmidt: Der Ex-"Titanic"-Redakteur, lange Autor der Satireseite "Wahrheit" der "taz" und humoriger Bücher über sein Leben in China legt nun seinen ersten Roman vor: eine Selbstsuche im halluzinierenden Drogenrausch, die in ihrer Überdrehtheit an Hunter S. Thompsons "Fear and Loathing in Las Vegas" erinnert - und eine Hommage ist an die Berliner Dada-Bewegung um den echten Richard Hülsenbeck. Klingt wirr, ist es auch, und eben das ist das Großartige an diesem Roman.

Autor Christian Y. Schmidt
Foto: Gong YingxinDenn Schmidt, seinem Satire-Tonfall treu bleibend, hat die perfekte Persiflage über die Ego-Tourette-Sinnsuche mittelalter Männer geschrieben. Typen, die ihrer Vergangenheit, alten Flammen und Freunden nachspüren als Reise ins Ich. Gähn: ein Thema, das sich längst zu einem eigenen Genre zusammengerottet hat (mit Jim Jarmuschs Film "Broken Flowers" als typischstem Beispiel).
Der Lebenskrisen-Mann
Midlifecrisis-Storys sind Roadtrips zurück, das eigene Ende fest im Blick. Bei Schmidts "Huelsenbeck" bricht Daniel, Ende 50, auf, weil in seinem Gedächtnis eine Lücke klafft: Was da wirklich geschah auf dem Trip mit den anderen Dada-inspirierten Kumpels, quer durch Amerika von Ost nach West 1978. Wer diese Frau im blauen Badeanzug war, die auf einmal in Gedankenfetzen auftaucht, ist ihm schleierhaft. Und so wird es Teil des Wahns, die Leerstelle füllen zu müssen, um das eigene Leben zu begreifen.
Indem Schmidt seinen Daniel in seine Paranoia fallen lässt, in Déjà-vus, Hypnose-Zustände, zugeballert mit Antidepressiva, Dope, Bier und Dosenravioli, karikiert er den Lebenskrisen-Mann, jedoch ohne ihn der Lächerlichkeit preiszugeben. Denn Daniels Ich-Perspektive ist die bestürzende Wirklichkeit der Erzählebene. Alles bezieht sich nur auf ihn: die Kinder mit den Muttermalen, die Todes-Krähe, Velvet Undergrounds Song "What Goes on ", den er von Ferne hört, während er durch den Berliner Weißen See pflügt - alles Zeichen! Nur für ihn, zur Daseinsdeutung.
Doch diese Willkür-Sinnstiftung ist Dada pur. "Dadaist sein, heißt, sich von den Dingen werfen lassen", trug Hülsenbeck in dem Berliner Manifest 1918 vor, das auch Tristan Tzara, George Grosz und Raoul Hausmann unterschrieben. Es gehe darum, dass alle Schlagworte in ihre "Bestandteile zerfetzt" werden, bis das Leben "als ein simultanes Gewirr von Geräuschen, Farben und geistigen Rhythmen" erscheint. Genau dies macht "Der letzte Huelsenbeck" mit fiebrigem Vollgas.
Die Buchteile, in denen Daniel manisch alle Adressen abradelt, die er in einem Heftchen über die Dada-Bewegung aufgelistet findet, und wie er die Strecke der Berliner U7 umfunktioniert in die Stationen der Amerikareise mit seinen anderen Huelsenbeck-Kumpels 1978, gehört zum wunderbar Verschrobensten, was man derzeit zu lesen bekommt.
Herausragend lustig in seiner Durchgeknalltheit
Als ob die Ideen aus einer endlosen Konfettikanone zünden. Wie akribisch einer zwei Stunden lang alle Graffiti, jede Uralt-SPIEGEL-Ausgabe im Müll notieren kann, die er rund um den Discounterparkplatz findet, wo einst jenes Haus stand, in dem die erste Berliner Dada-Schau war, haut einen um. Ebenso wie die drei irren Tage à 16 Stunden in der U-Bahn: Wie Schmidt seinen Daniel die Lipschitzallee zu New York deklarieren lässt - "da standen immerhin Hochhäuser" - die Yorckstraße zu Empire in Colorado, Schlachtensee zum Pazifik, bis er anfängt, Muster zu erkennen, und einem Mädchen folgt, das offenbar jene Frau im Badeanzug sein muss, MUSS!, ist herausragend lustig in seiner Durchgeknalltheit.
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01.06.2023 22.11 Uhr
Keine Gewähr
Für diese Strecken verzeiht man Schmidt auch den hölzernen Rahmen: zuerst die Beerdigung von Viktor, einem der Huelsenbecks; zwischendrin ein beharrliches Runterzählen der Tage "b.z.m.T.", also "bis zu meinem Tod". Klar, der Fokus aufs finale Finale ergibt Sinn, nichts anderes treibt die Lebenskrisenmänner in ihrem Ego-Dada ja an. Aber hier wirken dieses Passagen drangeklebt und öd.

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Also Geduld. Bis dieses Buch wirkt, dauert es, wie bei jedem Glas Cola. Bis dahin gilt das Motto des "letzten Huelsenbeck": "Aufhören nachzudenken, anfangen nichts zu tun".