Zum Tod von Christine Nöstlinger Das Auf-wen-Pfeifen lernen

Christine Nöstlinger im Jahr 2016
Foto: DPA/ APAWas sich alles an Weltanschauung hinter dem verbirgt, was man als Kind so liest und hört, erschließt sich einem ja häufig erst im Erwachsenenalter. TKKG? Bürgerwehr, die Rechtskonservatismus propagiert. Bibi Blocksberg? Weibliche Zauberkraft als feministischer Subtext. Alles von Michael Ende? Philosophie für Fortgeschrittene, hat man als Kind irgendwie besser verstanden.
Durch die Geschichten der großen österreichischen Schriftstellerin Christine Nöstlinger, die jetzt im Alter von 81 Jahren gestorben ist, zog sich stets ein Sozialrealismus mit antiautoritärem Touch - aber so lebendig und unlehrerhaft verpackt, dass Generationen von Kindern und Jugendlichen ihre mehr als hundert Bücher reihenweise und immer wieder lasen.
Erst mal über den Reiz ihrer Geschichten für Kinder: 1970 erschien das erste Nöstlinger-Buch. Erst waren nur die Zeichnungen der studierten Grafikerin, dann kam der Text: "Die feuerrote Friederike" handelte von einem Mädchen, das für ihre Haarfarbe, "rot wie Paradeiser", gehänselt wird, bis es entdeckt, dass sie sich durch einen Zauberspruch wehren kann.
Schon im Debüt steckte ein Blick, bei dem Kinder schwach sein dürften, aber gleichzeitig nie verzagten, auf eine sichere Art weltbereit waren - diese tröstliche Perspektive sollte sich durch alle Nöstlinger-Bücher ziehen.

Aktuelles Cover von "Die feuerrote Friederike"
Da war etwa auch der Franz, der für sein Alter zu klein war und dessen Stimme bei Aufregung so piepsig wurde, dass vor allem die Erwachsenen ihn kaum noch hörten. Da war das dicke Gretchen Sackmeier, das gemeinsam mit seiner übergewichtigen Familie "die Säcke" genannt wurde - und darunter litt, aber nicht zugrunde ging.
"Da hätte ich ja lügen müssen!"
Da war Barbara, die selbst in einer winzigen Wiener Wohnung lebte und auf dem Eisschrank sitzen musste zum Lernen. Die sich aber nicht ihrer selbst schämte, als sie beim reichen Freund zu Besuch war. Da war Christine selbst: In ihrer eigenen Kinderbiografie "Maikäfer flieg!" verhandelte Nöstlinger das Aufwachsen im Nachkriegsösterreich - während alle Angst vor den Russen hatten, freundete sie sich mit einem an.
Das lesende Kind wusste dabei immer mit all ihnen gemeinsam häufig nicht so richtig, was mit den Erwachsenen los war - die waren nicht abwesend oder lieblos, aber hatten halt eigene Probleme. Oft war der Vater in Nöstlinger-Büchern gerade ausgezogen und die Mutter rauchte in der Küche.
"Ich wäre überhaupt nicht auf die Idee gekommen, die Welt für Kinder heil darzustellen. Da hätte ich ja lügen müssen!", sagte Nöstlinger selbst einmal. Hier lag eine Aufrichtigkeit Kindern gegenüber, die diese immer mehr schätzen als das Glattgebügelte oder das Überpädagogische: In ihren Büchern war nie alles gut - aber so schlecht, dass Aufgeben in Frage gekommen wäre, war es halt auch nie. Konnte es eine bessere Weltvorbereiterin geben?

Aktuelles Cover von "Maikäfer flieg"
Und vielleicht verstand man ja doch, als man als Zwölfjährige im Sommerurlaub mal wieder drei Nöstlinger-Bücher am Stück verschlang (und sich als deutsches Kind, das nur nebenbei, auch immer neugierig über das österreichische Vokabular wunderte: Was war der "Prater", in den alle wollten? Waren Ribisl etwas Süßes?), dass hier noch viel mehr drinsteckte.
Wer Nöstlinger als Erwachsener liest, sieht klar, was sie alles an gesellschaftlicher Realität verhandelte: Den Zweiten Weltkrieg, Body Positivitiy bei Mädchen, auch immer den Blick in unterschiedliche soziale Schichten; sie selbst wuchs als Tochter eines Uhrmachers und einer Kindergartenleiterin im Wiener Arbeitermilieu auf.
Diesen Realismus am Beispiel: Die Mutter von Gretchen Sackmeier trennte sich vom Vater in einem feministischen Akt, weil sie keine Lust mehr auf das Hausfrauendasein hatte; ein Gefühl, das auch Nöstlinger ähnlich erlebte, die über die Zeit, als ihre zwei Töchter halbwüchsig waren, sagte: "Ich war gefangen in einem Leben, das ich für mich so nie geplant hätte, ich hatte mich nie als Hausfrau entworfen, das wollte ich einfach nicht."

Nöstlinger 2003 auf der Frankfurter Buchmesse
Foto: Carstensen/ picture-alliance/ dpaAm eindrücklichsten fielen einem im Erwachsenenalter die Schuppen von den Augen beim Klassiker "Wir pfeifen auf den Gurkenkönig", für den Nöstlinger den deutschen Jugendliteraturpreis bekam: In der Geschichte terrorisiert ein plötzlich auftauchender Gurkenkönig eine an sich ganz normale Familie.
Stefanie Sargnagel als Fan
Das Buch liest sich wie ein Paradebeispiel für die Auseinandersetzung der 68er mit der Elterngeneration, aber taugt auch allgemeiner als antiautoritäre Fabel schlechthin: Der Gurkinger, wie er im Buch genannt wird, zieht den Vater - selbst noch halber Tyrann und alten Rollenklischees verhaftet - mit populistischen Versprechungen auf seine Seite, unterdrückt im Keller aber ein ganzes Gurkenvolk. Erst als die Kinder sich auflehnen, gibt es so etwas wie eine Befreiung. Hatte man vielleicht auch damals beim Lesen schon etwas von diesem "Auf-wen-Pfeifen" mitgenommen? Obwohl man damals noch keine Worte dafür besaß?
Cornelia Funke, die ein paar Generationen später die deutschsprachige Kinderliteratur mit märchenhaften Fantasyfabeln wie der "Tintenwelt"-Reihe prägte, nannte Nöstlinger mal ihr Vorbild - das stimmt, die Bücher beider Schriftstellerinnen sind geprägt von einem meisterhaften Einfühlungsvermögen gegenüber Kindern und ihren Sorgen. Aber es macht die Bandbreite von Nöstlinger klar, dass die explizit linke, derbe und witzige Nachwuchsautorin Stefanie Sargnagel ebenfalls von ihr schwärmt: "Die hat eine sehr trockene Sicht auf die Kinderwelt und beschreibt ja auch Außenseiterfiguren."
Nöstlinger selbst sagte noch vor einigen Wochen im Gespräch mit dem österreichischen Portal news.at: "Meine eigene Kindheit ist schon eine historische und die meiner eigenen Kinder auch schon bald. Es ist alles sehr, sehr anders geworden, und ich verstehe es nicht mehr."
Stimmt das? Man hätte ihr entgegnen können, dass man gerade heute starke Kinder braucht, die nicht verzweifeln. Die Jugend heute sei ihr ein bisschen zu unpolitisch, sagte sie auch mal. Man könnte dieser Jugend sagen: Wenn es richtig wäre, jemandem das Gegenteil zu beweisen - dann Christine Nöstlinger.