
Comic "Paper Girls": Furchtlose Zeitungsmädchen
Neuer Comic von Brian K. Vaughan Stranger Girls
"Hell Morning", so nennen die Zeitungsboten in Stony Stream, einem Vorort von Cleveland, den Morgen nach Halloween. Denn im Zwielicht vor Sonnenaufgang treiben sich noch genügend kostümierte Halbstarke herum, die einem den Job zur Hölle machen können. Aber das soll sich als das kleinste Problem für die zwölfjährige Erin Tieng herausstellen, als sie in den frühen Stunden des 1. Novembers 1988 auf ihrem Fahrrad die Liefertour durch die dunklen Straßen beginnt.
Erins morgendliche Fahrt markiert den Auftakt der jetzt auch in deutscher Sprache erscheinenden Comic-Reihe "Paper Girls", in der Starautor Brian K. Vaughan und Zeichner Cliff Chiang ein hintersinniges Abenteuer zwischen Pop-Bildungsroman und fantastischem Spektakel Steven Spielbergscher Prägung entwerfen. Mittendrin ein Quartett heranwachsender Heldinnen, das dank seiner Originalität direkt aus den liebevoll gestalteten Panels in die Herzen der Leser springt.
Als Erin auf ihrer morgendlichen Tour tatsächlich von einigen krawallwütenden Jungen aufgehalten wird, erhält sie unverhofft Beistand von drei gleichaltrigen Kolleginnen: Mackenzie, die als rauchender und fluchender Tomboy nur Mac gerufen wird, die hochgewachsene Hockeyspielerin K J und Tiffany, stolze Besitzerin brandneuer Walkie-Talkies. Die drei helfen Neuling Erin aus der prekären Situation, so wie es sich für selbstbewusste und solidarische Paper Girls gehört, die sich in der männlich dominierten Domäne des Zeitungsaustragens durchsetzen müssen.

Comic "Paper Girls": Furchtlose Zeitungsmädchen
Tolldreister Plot, plausible Figuren
Was jedoch harmlos ist, im Vergleich zu dem, was kurz darauf über Stony Stream und die vier Mädchen hereinbricht: Plötzlich tauchen vermummte Gestalten auf, die in fremden Zungen sprechen und eines von Tiffanys Funkgeräten entwenden. Das ist weit gruseliger als Halloween, und durch die geisterhafte Kulisse ihrer Heimatstadt suchen die Paper Girls nach den Dieben sowie nach Erklärungen für die mysteriösen Ereignisse. Dabei stoßen sie auf eine unheimliche Maschine, die nicht von dieser Welt scheint. Deren Ende scheint aber ohnehin nah, wenn alsbald in der gesamten Stadt der Strom ausfällt, nahezu alle Menschen spurlos verschwinden und am Himmel riesige Flugsaurier auftauchen, auf denen offenkundig ortsfremde Gestalten in futuristischen Ritterrüstungen reiten. Ein Höllenmorgen, keine Frage.
Preisabfragezeitpunkt
01.06.2023 02.33 Uhr
Keine Gewähr
Das ist wohlgemerkt nur ein Ausschnitt aus der Exposition, die "Paper Girls" in atemlosem Tempo präsentiert. Was es mit dem apokalyptischen Szenario genau auf sich hat, warum es dabei auch um einen bizarren Generationenkonflikt über die Grenzen von Zeit und Raum geht und welche rätselhafte Rolle die Produkte von Apple dabei spielen, das begreift man gleich den Heldinnen mitnichten sofort - was das Vergnügen an der kühnen Kolportage jedoch nur noch mehrt.
Wie wenige Comicautoren vereint Brian K. Vaughan in seinen Erzählungen virtuos verstiegene, bisweilen surreale Plots mit einer plausiblen Figurenzeichnung. Das gilt für sein juveniles Superhelden-Team "Runaways", das gegen schurkische Eltern rebelliert, ebenso wie für die Geschlechterrollen durcheinanderwirbelnde Endzeitfantasie "Y- The Last Man", die melancholische Tierfabel und Kriegsallegorie "Pride of Baghdad", sowie natürlich für die wild-berauschte Weltraumoper "Saga". Zuletzt imaginierte Vaughan in "We Stand On Guard" den grimmigen Widerstand einer kanadischen Guerillatruppe gegen eine US-amerikanische Invasionsarmee, wobei gerade diese dystopische Fiktion im Lichte aktueller Verwerfungen erschreckenderweise nicht mehr gänzlich aus der Luft gegriffen scheint.

Brian K. Vaughan
Foto: Ethan Miller/ Getty ImagesNeue Heldinnen im Popkultur-Pantheon
Dagegen gibt sich "Paper Girls" ungleich optimistischer und selbstironischer, doch hinter einer detailreichen Retro-Oberfläche mitsamtDepeche Mode-Postern, Karottenjeans und Referenzen an Videospielklassiker wie Arkanoid formuliert Vaughans Comic gleich mehrere kluge Kommentare.
So thematisiert die doppelbödige Erzählung offensiv die Nostalgieversessenheit eines längst erwachsenen Zielpublikums, das sich aktuell für sentimentale Rückschauen wie die TV-Serie "Stranger Things" begeistert. Dabei entbehrt es nicht einer bittersüßen Ironie, dass wir diese Geschichten, in denen es ja immer um das dramatisch beschleunigte Erwachsenwerden jugendlicher Protagonisten geht, mithin so sehr mögen, weil wir damit das eigene Altern zumindest für die Dauer einer Fernsehfolge oder die Länge eines Comic-Hefts aufzuhalten glauben.
Doch noch mehr ist "Paper Girls" die überfällige Revision des Heldenpantheons der Achtziger, in dem es fast ausschließlich Jungen vorbehalten war, Außerirdische zu treffen oder zurück in die Zukunft zu reisen. Mit ihrer mitreißenden Herzensbildung fordern die furchtlosen Zeitungsmädchen nun zu Recht ihren Platz im popkulturellen Gedächtnis ein. Er sollte ihnen sicher sein.