Comic über große Frauen »Ich habe mich lange wie eine Riesin gefühlt«

Ganz zufrieden war sie mit dem eigenen Körper nie: Die Zeichnerin Mia Oberländer hat in einem Comic ihr Leben als große Frau verarbeitet – am Ende wächst eine Hauptfigur über sich hinaus.
Ein Interview von Stefanie Witterauf
Seite aus »Anna«: »Niemand möchte ein unauffälliger Normalo sein«

Seite aus »Anna«: »Niemand möchte ein unauffälliger Normalo sein«

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Mia Oberländer / Edition Moderne

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SPIEGEL: Frau Oberländer, Ihr Comic handelt von gleich drei Annas: Großmutter, Mutter, Tochter. Durchnummeriert in Anna 1, 2 und 3, die alle leiden, weil sie sehr groß sind. Wie kam Ihnen die Idee?

Oberländer: Die Grundinspiration habe ich von meiner eigenen Familie. Dabei ging es bei uns um die Körpergröße in Kombination mit dem Dünnsein. Vor allem meine Mutter hat sehr darunter gelitten, als sie jung war. Ihr wurde oft geraten, dass sie mehr essen sollte. Hinzu kam, dass sie als Frau, geboren in den Sechzigern, mit 180 Zentimeter als zu groß galt, als irgendwie zu maskulin. Von meiner Großmutter fühlte sie sich nicht genug in Schutz genommen. Deswegen hat meine Mutter sich bemüht, es bei ihren Kindern anders zu machen. Meine Schwester und ich haben den großen Körperbau geerbt und seitdem wir klein waren, hat unsere Mutter versucht, ihn positiv zu konnotieren.

SPIEGEL: Hat diese Taktik funktioniert?

Oberländer: Eher nicht. Mit 176 Zentimetern bin ich gar nicht so groß, trotzdem habe ich mich lange Zeit wie eine Riesin gefühlt. Einerseits wurde ich gelobt, dass ich eine Modelfigur hätte, andererseits wurde mir oft gesagt, dass ich lieber noch eine Portion essen soll oder dass man mich nicht mehr sehen würde, wenn ich mich zur Seite drehe. Ich habe mit der Behauptung gelebt, dass ich eigentlich Glück hätte, weil ich dem Schönheitsideal »Dünnsein« entspreche – aber mich nie so gefühlt.

»In der Gesellschaft sind Rollenbilder verankert: der starke, große Mann und die zarte, schutzbedürftige Frau«

SPIEGEL: Weniger dem Ideal entspricht in Ihrem Comic Anna 2. Sie wird wegen ihrer herausragenden Körpergröße abgelehnt. Das Absurde bei dieser Ablehnung ist, dass sie ihr wegen ihres Andersseins passiert, obwohl doch jeder Mensch versucht, etwas Besonders zu sein.

Oberländer: Das stimmt, niemand möchte ein unauffälliger Normalo sein. Aber es ist dieser ewige Konflikt, unangenehm auffallen will man ja auch nicht. Ich habe mich in meiner Kindheit und Pubertät oft wie auf einem Präsentierteller gefühlt. Kamen blöde Kommentare, habe ich versucht, sie wegzulachen.

SPIEGEL: Ist Humor also sozusagen Ihre Coping-Strategie?

Oberländer: Das kann befreiend sein. In meinem Comic habe ich versucht, die Gemeinheiten, die mir passiert sind, in Komik zu verwandeln. Wie die Schwimmszene, in der Anna 2 gesagt bekommt, sie sei fürs Schwimmen zu groß. Als ich bei der Prüfung des Seesternchen-Abzeichens durchgefallen bin, hat meine Lehrerin gesagt, dass es kein Wunder ist: Ich wäre so dünn, dass ich anatomisch gar nicht in der Lage wäre, zu schwimmen. Das ist natürlich Unsinn.

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Mia Oberländer: »Anna«

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Mia Oberländer / Edition Moderne

SPIEGEL: Sie illustrieren auch die Probleme von Anna 2 bei der Partnerwahl, weil sie als große Frau einen noch größeren Mann finden will. Ein Problem, das sich auch heute noch im Alltag finden lässt. Kleine Männer geben beispielsweise in Dating-Apps ihre Körpergröße an.

Oberländer: In der Gesellschaft sind Rollenbilder verankert: der starke, große Mann und die zarte, schutzbedürftige Frau. Ich bin davon auch nicht frei und habe beim Abschlussball meiner Schule meinen Tanzpartner nur nach seiner Größe ausgesucht, weil ich hohe Absätze anziehen wollte. Ich hatte einen etwa gleichgroßen Freund, wir waren verliebt, haben uns gut verstanden. Trotzdem hatte ich den merkwürdigen Gedanken, dass ich auf unserer Hochzeit wohl Ballerinas anziehen muss. Dabei ging es mehr um mich als um die andere Person. Es ging nicht darum, dass er größer sein sollte, sondern ich kleiner, um besser in eine Rolle zu passen.

SPIEGEL: In Ihrem Comic zeigen Sie auf brutale und komische Art, wie Probleme innerhalb einer Familie weitergegeben werden und sich gar verschlimmern. Können sich solche Dynamiken überhaupt verändern?

Oberländer: Das Großsein ist bei den Annas im Comic ein Familienproblem, das von Generation zu Generation immer größer wird: die Großmutter war schon groß, die Mutter größer und die jüngste Anna sprengt jede Dimension – sie ist so groß, dass sie selbst die Berggipfel überragt. Doch sie ist es, die durch einen Perspektivwechsel dieses Muster durchbrechen kann. Sie blickt am Ende des Buches von oben auf die Dinge.

SPIEGEL: Wie ist es bei Ihnen? Würden Sie Ihre Schuhauswahl nun nicht mehr von der Körpergröße Ihres Tanzpartners abhängig machen?

Oberländer: Durch die Arbeit an dem Comic habe ich viel verstanden und Verhaltensweisen in meiner Familie und von mir identifiziert, aber es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass ich alle Ängste überwunden hätte. Auch in meiner Familie gibt es noch so manchen Konflikt, der immer wieder auftaucht. Einen Streit vom vergangenen Weihnachtsfest will ich in meinem nächsten Projekt verwenden. Es war eine filmreife Szene: Wir waren schön gekleidet, meine Schwester hatte schon ihre Querflöte in der Hand. Begonnen hat es mit einer Kleinigkeit und sich zu einer Grundsatzdebatte hochgeschaukelt. Meine nächste Arbeit soll vom Streiten handeln.

SPIEGEL: Sind Ihre Arbeiten also eine illustrierte Familientherapie?

Oberländer: Zeichnen hilft mir, wenn die Worte fehlen. Aber ich zwinge meine Familie nicht zu Konflikten, damit ich weiter etwas erzählen kann. Meinen Vater habe ich das Exposé meines Comics zum Korrekturlesen geschickt, ein paar Tage später bekam ich ein Päckchen von meiner Mutter mit einem Christstollen und einer Karte, dass sie sich auf ein friedliches Weihnachten freut. Friedlich hatte sie dreimal unterstrichen.

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