Roman "Als der Regen kam" Die Kleinstadt in uns allen

Ein Sohn macht sich auf die Suche nach der Liebe seiner an Alzheimer erkrankten Mutter. Urs Augstburgers neues Werk bricht mit Heimatklischees und zeigt die Schweiz als Land der geistigen und gesellschaftlichen Isolation.
Autor Urs Augstburger nimmt den Leser mit auf eine Zeitreise, die beweist, dass früher nicht alles besser war.

Autor Urs Augstburger nimmt den Leser mit auf eine Zeitreise, die beweist, dass früher nicht alles besser war.

Foto: Jeannine Good

Helen Nesta ist krank. Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium, so lautet die Diagnose. Alleine wohnen kann die 72-Jährige nicht mehr, das Pflegeheim ist ihr neues Zuhause. Als sich Helens Zustand verschlechtert, reist ihr Sohn Mauro aus Italien in die Schweizer Heimat. Die alte Dachwohnung soll verkauft werden. Ein Pflichttermin, dem Mauro widerwillig nachgeht. Doch während sich die Stadt auf das alljährliche Jugendfest vorbereitet und Mauro von Kindheitserinnerungen übermannt wird, entdeckt er im Leben seiner Mutter Hinweise auf eine lange zurückliegende Romanze.

Den Ausschlag gibt ein Tanz. Die Frau, die sich nicht mehr artikulieren kann, bricht bei einem Spaziergang mit dem Sohn aus ihrer Lethargie aus und gleitet zu einer nur für sie hörbaren Musik über den Boden. "Sie tanzte allein und fast graziös! Oder doch nicht allein? Ihr Blick wirkte beseelt, ihre Hand ruhte auf einer erinnerten Schulter." Mauros Suche nach dem unbekannten Tänzer führt zurück in die eigene Familiengeschichte, aber auch in das Leben der Schweiz während der fünfziger Jahre. Eine Zeitreise, die beweist, dass früher nicht alles besser war und dass Engstirnigkeit, Fremdenhass sowie Neid menschliche Fehler sind, die sich in jeder Generation wiederholen.

Familiengeschichte, Romanze, Heimatbuch

Urs Augstburger, 47, hat mit "Als der Regen kam" gleich mehrere Bücher verfasst. Auf den ersten Blick erzählt der Roman die Geschichte einer zerrütteten Mutter-Sohn-Beziehung. So sehr sich Mauro und Helen auch optisch gleichen, so stark ist die zwischenmenschliche Kluft. Das Leben im Ausland, der Stress in der Arbeit haben den Mittvierziger von seiner Mutter entfremdet. Ein Familienschicksal, das in Zeiten von Mobilität und Berufszwängen viele Menschen ereilt. Erst jetzt, im Angesicht der Krankheit, versucht Mauro eine Annäherung. Und weiß, dass es dafür eigentlich zu spät ist.

In diesem Sinne ist Augstburgers Werk auch eine tieftraurige Erzählung über verpasste Chancen. Helens Demenz, "die Krankheit des Vergessens", verhindert jede Art von Kontakt. Natürlich wartet man gemeinsam mit dem Sohn auf lichte Momente, in denen der glasige Blick der Mutter weicht. Doch allzu große Hoffnungen macht man sich nicht. Eine Heilung ist aussichtslos, wie die Stationsleiterin des Pflegeheims betont. Und damit auch ein klassisches Happy End für die Liebesgeschichte, in die sich das Werk langsam verwandelt.

Schließlich und endlich ist "Als der Regen kam" auch ein Heimatroman. Angesiedelt im schweizerischen Brugg, dem Geburtsort des Autors, das trotz fehlender Namensnennung durch sein Jugendfest deutlich erkennbar wird. Augstburger fängt das Gemeindeleben mit nostalgischem Blick ein - "die verklärte Perspektive eines Rückkehrers", wie eine Romanfigur sagt.

Doch gerade als die Geschichte ins Kitschige abdriftet, kommen Brüche. Das dörfliche Leben erscheint hier nicht als Ideal, sondern als Hort für Moralismus und Intoleranz. Eigenschaften, die laut Augstburgers Roman in der Schweiz stark verbreitet sind und die der Autor als "die Kleinstadt in uns allen" bezeichnet. Eine Kleinstadt, die ebenso isoliert wie Helens Alzheimer.

Die Worte der Vergessenden

Wie aber nähert man sich der Thematik des Vergessens - in einem Medium wie dem Roman, der auf fixierte Wörter und die Möglichkeit der erneuten Lektüre setzt? Augstburger wählt zunächst den klassischen Ansatz, indem er Helens Verfall durch andere Personen beschreibt. Allem voran durch Mauro, für den der Wandel der Mutter nach zweijähriger Abwesenheit deutlich zutage tritt. Helen ist "zerbrechlich und verloren", sie wirkt distanziert, "als trüge sie eine hauchdünne, wächserne Maske über ihrem Gesicht".

Den Kontrast liefern zwei Jugendfreunde der Frau, die beide in die geheimnisvolle Romanze verstrickt sind. In ihren Erinnerungen zeichnen sie das Bild einer jungen Kämpferin, die für die Liebe selbst elterlichen Vorschriften Paroli bietet. Und die nichts mehr gemein zu haben scheint mit der demenzkranken Greisin. Zumindest am Anfang. Dann jedoch setzt Augstburger auf einen Kunstgriff und lässt die Kranke selber zu Wort kommen. Ihre Gedanken, abgehoben in Kursivschrift, ähneln mehr Gedichten als Prosastücken. Mal erscheinen sie schmerzhaft klar ("Ich kann mich an das viele Vergessene nicht mehr erinnern"), häufig jedoch kryptisch-assoziativ ("schau wie die Asche aus den Gesichtern rieselt, zum Glück trägst du dein altes Gesicht im neuen, mein einziges und Kind ohne Namen").

Der Versuch, die Worte der Vergessenden festzuhalten, fasziniert und verstört gleichermaßen. Er macht den Mehrwert dieser Lektüre aus. Zudem ist "Als der Regen kam" spannend geschrieben. Das Buch über Liebe und Erinnerung stellt die Frage, was Heimat ist, und lässt den Leser trotz der traurigen Geschichte hoffnungsvoll zurück. Streckenweise verfällt der Autor dabei in Kitsch - doch bei so bedrückender Thematik ist guter Kitsch manchmal tröstlich.

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