Debatte um Bestseller-Autorin Hegemann Kreativität ohne Reinheitsgebot

Helene Hegemann, der neue Shootingstar der Literatur, hat abgeschrieben. Na und? Das haben schon ganz andere vor ihr getan. Die Plagiatsdebatte um ihren Roman "Axolotl Roadkill" ist naiv: Publikum und Kritiker wollen hinter die Errungenschaften der Moderne zurück.
Von Daniel Haas
Autorin Hegemann: Abschreiben. Am besten auch die Kritiker

Autorin Hegemann: Abschreiben. Am besten auch die Kritiker

Foto: DDP

Ein kleines Gedankenexperiment zur Einstimmung: Der Schriftsteller William S. Burroughs sitzt in seinem Hotelzimmer in Tanger, Marokko. Vielleicht liegt er auch, das wäre bequemer, bei all den Drogen, die er in sich reingefressen hat. Es sind die späten Fünfziger. Burroughs gehört zu den Stars der aufstrebenden Beat-Literatur, es wäre also gut, mal wieder was zu schreiben, zumal irgendwer die Miete zahlen muss.

Wenn man nur nicht so breit wäre. Überall liegen Manuskriptseiten herum. Keine Ahnung, wo die Story aufhört, wo sie anfängt. Und was da drin steht? Fragen Sie jemanden, der nicht sein Kleinhirn mit Tequila und Opiaten geflutet hat.

Eines Tages kommen die Schriftstellerfreunde Allen Ginsberg und Jack Kerouac vorbei. In Burroughs Zimmer sieht es mittlerweile aus wie in einer gestürmten Stasi-Zentrale anno 1990. Überall Papier, Seitenfetzen, Ideenschnipsel. "Wow!", sagen die beiden Autoren, raffen die Entwürfe zusammen. "Da steckt ein großes Werk drin, Bill! Aber bevor wir den ganzen Kram zusammensetzen, ihn 'Naked Lunch' nennen und damit Literaturgeschichte schreiben, müssten wir mal kurz die Copyrights klären. William? Hallo? Hörst du überhaupt zu?"

"Naked Lunch", diese verwegene Drogen- und Wahnsinnsgeschichte, wäre nicht erschienen, wenn ein Verlag sich in Urheberrechtsdebatten verzettelt hätte. Auch Thomas Pynchons "Die Enden der Parabel", ein vor wissenschaftlichen Exkursen strotzendes Riesenwerk der Postmoderne, wäre vermutlich nie veröffentlicht worden. Wem dieser Vergleich zu entlegen ist, der schaue sich Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" oder John Dos Passos' "Manhattan Transfer" an: Vom Zeitungsartikel bis zur Werbeanzeige sind die verschiedensten Gebrauchstexte in diesen Gründungswerken der literarischen Moderne verwurstet.

Der Autor als Obermufti der Sinnherstellung?

Man muss verwurstet sagen, weil die Literatur ja tatsächlich eine Mischung ist aus Ingredienzien, ein vielstimmiges Gewebe, in das Romanautoren alle möglichen Textsorten hineinweben. Das kann manchmal quälend sein bis zur Langeweile. Oder wer hätte sich in der Schule nicht abgemüht mit den musiktheoretischen Passagen in Thomas Manns "Dr. Faustus"? Die waren, so weit bekannt ist, weitgehend von Adorno. Nicht bekannt ist, dass es darüber einen Plagiatsstreit gegeben hätte.

Helene Hegemann hat nach eigener Aussage bei einem anderen Autor abgeschrieben - und sich für diese Form des kreativen Samplings explizit entschuldigt. In der zweiten Auflage des Buches wird der Urheber der Passagen auch in einer Danksagung erwähnt. Parallel hat der Ullstein-Verlag strikt gesagt: Abschreiben geht nicht, das wird jetzt alles geprüft.

Das ist verlegerisch integer, entscheidend aber ist die Frage: Wo kommen wir eigentlich hin, wenn die Literatur auf einmal wieder einem Autorenbegriff unterworfen wird, der aus dem 18. Jahrhundert stammt? Jahrzehnte lang haben wir, die eifrigen Intertextualität-Fans, gerufen: Hurra, der Autor, dieser autoritäre Obermufti der Sinnherstellung, hat ausgedient! Der narrative Diskurs schreibt sich selbst. Überhaupt das Subjekt: auch nur eine Funktion des Zeichensystems Sprache. Auf gut Deutsch: Die modernen und postmodernen Texte spielen mit Formen, collagieren, demontieren und re-kreieren. Und sie verwischen in diesem Prozess die Grenzen zwischen Original und Fälschung, Vorbild und Nachahmung.

Provokation mit Gütesiegel

Wenn dann aber die Risiken eines solchen, nicht mehr selbstherrlich auf Individualität und Originalität pochenden Schreibens deutlich werden, dann fängt das Gezeter an. Es scheint für viele, auch für das Feuilleton, eine große Kränkung darin zu liegen, dass die für gut befundene literarische Provokation eine genuin postmoderne, das heißt aus Versatzstücken montierte ist.

Nein, man will den künstlerischen Affront - als solchen feiert man Frau Hegemanns Buch ja gerade - exklusiv und originell. Man will zurück zum Geniebegriff à la Goethe, weil man dann sagen kann: Ich grusele oder geile mich auf an einem Original. Da ist alles originär in dieser Textsause aus Drogen, Sex und Revolte.

Diese Haltung ist nicht nur bigott, sie ist auch historisch naiv. Im Mittelalter war der Autorenname buchstäblich Schall und Rauch, wenn es um Unterhaltungstexte ging. Berichte, Erzählungen, Tragödien und Komödien kursierten anonym, ohne dass ihre Glaubwürdigkeit darunter gelitten hätte. Konträr dazu waren jene Texte, die heute als wissenschaftlich gelten, erst durch einen Autorennamen legitimiert. Erst im 18. Jahrhundert ersetzt die Zuordnung wissenschaftlicher Texte zu einem systematischen Konzept die Zugehörigkeit zum Verfasser.

Der Philosoph Michel Foucault, der fleißig bemüht war, die Beglaubigungsinstanz des Autorennamens in seinen Überlegungen zu schleifen, schwärmte deshalb von einem Jahr anonym erscheinender Texte ohne Nennung des Urhebers. Das wäre eine großartige Lese- und Schreiberfahrung für die literarische Welt - und ein riesiges Marketingproblem für die verwertende Industrie. Und natürlich ein Imageproblem für das Hype-vernarrte Publikum. Denn nur wo Hegemann draufsteht und alles von Hegemann drin ist, kann auch eine richtige Wallung herauskommen. Oder?

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