Debatte über Klasse Her mit den Empörungsromanen!

Die zwei besten Szenen in der deutschen Literatur des Jahres bislang: Christian Krachts Mutter wirft in den Alpen ein kleines Vermögen in die Luft und lässt es wirbeln. Sie hat einfach zu viel Geld, hatte, einer plötzlichen Laune folgend, 600.000 Franken abgehoben, in eine Plastiktüte gestopft. Und fährt dann mit Geld und Söhnchen ein bisschen rum.
Und: die 27-jährige Sophie Passmann fährt kurz nach Hause in ihr Wohlstandselternhaus, blickt dort in den Kühlschrank und entdeckt mit einer Mischung aus wohligem Entsetzen, Ekel, Staunen und Hunger »zweierlei Bündnerfleisch«. Verrückt: ...»dass es einen Haushalt gibt, denkt man, der ganz ohne Anlass zweierlei Bündnerfleisch beherbergt, das ist ja allerhand.«
Diese Sophie Passmann und dieser Christian Kracht aus den zwei Büchern sind literarische Figuren, nicht ganz zu verwechseln mit ihrer Erfinderin und ihrem Erfinder. Aber ein bisschen schon. Beide schauen, wenn sie auf die Welt ihrer Vorfahren schauen, auf eine Welt ungeheuren und letztlich unverständlichen Überflusses. (Wobei wir da von offenbar sehr unterschiedlichen Vermögen reden. Die Geldmenge, auf die der Kracht-Erzähler blickt, überragt die des Passmannschen Buches womöglich um den Faktor 100.)
Gemeinsam ist beiden Perspektiven: Das ist irgendwie viel zu viel. Und: Wir selbst, mit unseren Leben, unseren Jobs, werden eine solche Geldmenge niemals anhäufen können. Und wir wollen es auch nicht. Wir wollen das eher irgendwie loswerden.
Deutschland ist ein ungerechtes Land. Gerade wird wieder ein sogenannter Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung vorbereitet. Da wird wieder nur drinstehen, was jeder Bewohner dieses Landes jeden Tag sehen kann: Das Geld ist nicht gerecht verteilt. Halt! Witz! Lächerlich: Das Geld ist überhaupt nicht verteilt. Wenige Menschen haben alles, ersticken im Geld, wissen nicht, wohin damit, suchen immer neue Wälder, Fonds, Häuser, Inseln, die sie kaufen können, Angestellte, die sie auspressen können, Ansprüche, die sie stellen können.
Und auf der anderen Seite sind die ganzen Kämpferinnen und Kämpfer, die um beinahe nichts kämpfen. Die Tag und Nacht arbeiten, Müll sammeln, Menschen pflegen, Pfandflaschen aus Eimern angeln, sich von morgens bis abends irgendwo anstellen, gedemütigt werden. Und sich von schlauen Leuten anhören sollen, dass sie sich irgendwie anstrengen sollen, dass sie irgendwie selbst Schuld sind, dass es schon irgendwelche Chancen gibt. Sie haben keine. Jeder weiß das. Es klingt aber gut.
Du interessierst uns. Und du nicht.
Ich will Ihnen ein Beispiel geben, nur ein Aspekt aus meinem Alltag Berlin: die Schulen. In welchen Schulen gibt es kein Geld für den Schulhof oder einen Rauchmelder oder ein Klo oder was Schönes? Es sind die Schulen, in die die Kinder mit den Eltern mit wenig Geld gehen. Jeder Mensch, der sich einen Moment Zeit nimmt, erkennt: In Berlin sollen die Kinder, deren Eltern nichts haben, auch nichts bekommen. Die Schulen in den reichen Stadtbezirken sind top ausgestattet. Wer zu Hause viel Geld hat, soll auch in der Schule von Geld und Schönheit umgeben sein.
Man weiß ja: diese Eltern beschweren sich sonst. Diese Eltern geben ihre Kinder sonst auf eine Privatschule, wenn sie da nicht sowieso schon sind. Diese Stadt ist von vorneherein so eingerichtet, dass Arme immer arm bleiben. Die Kinder sollen es sehen und spüren vom ersten Schulmoment an: Deine Ausbildung, deine Schulbildung ist dem Senat nichts wert. Wenn das Leben beginnt, sagt der Staat seinen kleinsten Bürgerinnen und Bürgern schon: Du interessierst uns. Und du nicht.
Aber eigentlich wollte ich ja über Literatur reden. Da kenne ich mich aus. Literatur ist der Möglichkeitsraum der Welt. Sie transferiert unsere festgetackerte Erdigkeit ins Hohe, Gültige, Erlebbare, Nachfühlbare, Sichtbare. Und da gibt es in der deutschen Literatur kaum Interessantes. Es gibt keine Tradition der Sichtbarkeit, der Wut. Beziehungsweise: wir haben sie abreißen lassen. In Frankreich entstehen immer schon und in den letzten Jahren mehr denn je aufrüttelnde Romane der Empörung, der grundsätzlichen Veränderungsbereitschaft – von Virginie Despentes, Éric Vuillard, Édouard Louis und all den Anderen.
Wir hier in Deutschland wollen das auch! Wir brauchen das! Wir haben Clemens Meyer. Wir haben Anke Stelling. Wir haben dieses irre schöne, weltöffnende Buch von Katja Oskamp: »Marzahn mon amour«. Und dieser Tage erscheint zum Glück die Anthologie »Klasse und Kampf«. Da sind geniale, gut geschriebene, verzweifelte, empörte, aufwiegelnde Texte drin. Zum Beispiel vom alten Punker Schorsch Kamerun, der den leisen Texten der anderen ein bisschen Dampf verleiht: »Kämpft. Erkennbar. Sonst werden euch die – von euch empfunden – Idioten so lange irritieren und verarschen, angreifen und anscheißen, bis sie sich ganz nach oben vorbeietabliert haben.« Von Anke Stelling, die vom Tod ihrer Schwiegermutter schreibt: »Wer nichts hat und nichts zählt, der kann sterben.« Von unserem Kollegen Arno Frank, der davon erzählt, wie es war, sich ohne Geld in die Gemeinschaft der Geldhaber reinzukämpfen. Zwischen diese Leute, für die Geld kein Problem ist und niemals war. Für die gesorgt wird und immer schon wurde. Die Anderen sind stumm von Anfang an. »Deshalb kann ich nur für mich sprechen, und das nur leise.«
Es ist Zeit, laut zu sprechen. Es ist Zeit.