Künstlerroman Zerstückelte Häuser, zersplittertes Geheimnis
Gemeinsam reisen sie durch den mittleren Westen der USA - ein Land voller Pancake-Filialen und mittelklassiger Highway-Motels, wie man sie aus Kinofilmen kennt, ein Land, dessen Weite es erlaubt, niemals irgendwo ankommen zu müssen. Dies spielt dem fiktiven Ausnahmekünstler Adrian Ballon in Denis Pfabes Debütroman "Der Tag endet mit dem Licht" durchaus in die Karten.
Unentwegt ist der Melancholiker auf der Suche nach geeigneten Familienhäusern, die er mit einem Trupp starker Männer zersägen kann. Was jedoch hinter den unkonventionellen Performances steckt, erschließt sich dem Leser nur nach und nach.
Das Rätsel zu lösen, ist die hehre Aufgabe der Ich-Erzählerin Frida Beier, die eines Tages unversehens von dem inzwischen zu Weltruhm gelangten Meister in Deutschland besucht wird. Sie: eine noch unbekannte Textilkünstlerin, er: eine auratische Persönlichkeit, der in ihr schon früh das "Gefühl einer dunklen Gravitation" hervorruft. Als der millionenschwere Star sie als Assistentin für seine Reise engagiert, weiß sie noch nicht, dass weitaus mehr als nur ein lukrativer Job auf sie wartet.
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04.06.2023 18.56 Uhr
Keine Gewähr
So wie der alte Mann vom Lande in Franz Kafkas Domparabel nach Jahren des Ausharrens vor einem Portal feststellen muss, dass dieses Tor (zum Gesetz) nur für ihn bestimmt war, so erkennt auch die junge Frau, dass sich hinter Ballons kraftraubenden Aktionen ein nur von ihr allein aufzudeckendes Familientrauma verbirgt. Nach seinem Suizid bleiben ihr lediglich kryptische Notizen, die nicht nur Rückschlüsse auf die traurige Kindheit des Künstlers, sondern überraschenderweise ebenfalls auf ihre eigene Herkunft ziehen lassen.
Ästhetische Großtat
Diese literarische Mixtur aus Road-Novel, Künstlerroman und Detektivgeschichte überzeugt nicht nur durch ihre originellen, ja, haltlos um ihre Identität ringenden Charaktere, sondern vor allem durch ihre delikate Struktur. Statt einer linearen Handlung bietet uns der Text achronologisch aneinander gereihte Fragmente an. Erinnerungsfetzen, kurze Begegnungen und Dialoge, Schnipsel, die von Frida erst mühevoll zusammengesetzt werden müssen.
Dass sie als Tochter einer Weberin aufwuchs und selbst Werke aus Tüll und Stoffen designt, erweist sich dabei als ein Schlüsselmoment zur Dechiffrierung der anfangs undurchsichtigen Komposition. "Jeden Tag entspann sich ein neues Netz aus Wegen, aus Möglichkeiten, dessen Maschen mal enger und dann wieder weitläufiger verliefen", so die Ich-Erzählerin, die damit zugleich die Bauweise des Romans erläutert: erst in dem wir die losen Teile miteinander verweben, ergibt sich ein Gesamtbild. Man muss - sinnbildlich - all die zerstückelten Gebäude Ballons wieder rekonstruieren.
Zuvor drehen wir mit den Protagonisten allerdings zahlreiche Schleifen und Loops: "Dutzende Male fuhren wir ein und dieselbe Straße eines Wohngebiets auf und wieder ab". Mit jeder Wiederholung und kommen wir dem Kern der Geschichte um Schuld und Sühne einer schwierigen Vaterfigur näher. Keine Sorge, hier wird nicht gespoilert, sondern nur der Grund für eine begeisternde Lektüre geliefert. Denis Pfabes Debüt ist eine ästhetische Großtat. Selten liest man Werke, die bis ins letzte Detail derartig fein ziseliert und stimmig elaboriert sind.

Autor Denis Pfabe
Foto: Tobias BohmGesteigert werden Genuss und Spannung übrigens auch durch das gekonnte Vexierspiel mit Wahrheit und Fiktion. Indem der 1986 in Bonn geborene Autor immer wieder vermeintlich echte Zitate aus Kunstzeitschriften und Lexika - in sehr gekonntem Feuilleton-Singsang - über den stilbildenden Ballon in seinen Text einbettet, steigert er die Spannung hinter dem Mysterium ins Unermessliche. Ergo: Pfabes Roman ist eine raffinierte Verführung zum Staunen.