Erwachsenwerden unter Extrembedingungen Allein mit der Sehnsucht
Vor wenigen Tagen verkündete Delia Owens über ihre Instagram- und Facebook-Accounts, dass von "Der Gesang der Flusskrebse" jetzt drei Millionen Exemplare verkauft wurden. Und das allein in den USA.
Seit elf Monaten ist der Roman auf der Bestsellerliste der "New York Times" zu finden, die Hälfte dieser Zeit auf der Spitzenposition. Eine Sensation, die auch viel mit der Hollywoodschauspielerin Reese Witherspoon zu tun hat. Die hatte "Der Gesang der Flusskrebse" im September 2018, kurz nach der Veröffentlichung, zum Roman des Monats ihres Buchklubs "Hello Sunshine" gekürt.
Nun mag man Witherspoons Art, Bücher zu präsentieren - sie lässt sich dabei filmen, wie sie in die Kamera lächelt und dabei Banalitäten plappert wie "Kauft dieses Buch, ich habe es so sehr geliebt" -, charmant finden oder als läppisch abtun. Unbestreitbar ist, dass sie damit enormen Erfolg hat - und es so erfolgreich macht wie sonst nur Oprah Winfrey. Mehr als eine halbe Million Follower bei Instagram sind eben auch massenhaft potenzielle Käufer. Der aktuell nicht gerade erfolgsverwöhnten Buchbranche können umsatzfördernde Influencer wie Witherspoon also nur recht sein.
Von dieser prominenten Hilfestellung abgesehen, ist es aber auch das Thema des Romans, das ihn für viele Leser so unwiderstehlich macht. In Zeiten ständig neuer Bedrohungsszenarien, die aus der menschlichen Zerstörung der Natur resultieren, wirkt eine Geschichte über ein Mädchen, das allein in einer zunächst menschenfeindlich wirkenden Umgebung seine Bestimmung findet, durchaus ungewöhnlich - oder auch wie ein Ausdruck einer tief verwurzelten Sehnsucht nach einer heilen, einer besseren Welt.
Nur Tiere bleiben zum Reden übrig
Die Handlung entspinnt sich zunächst in den Fünfzigerjahren, die in Literatur und Film mit Vorliebe als Zeitalter der Unschuld verklärt werden. Doch in der Welt von Owens Heldin Kya, die in tiefer Armut in einer schäbigen Hütte im Marschland an der Küste North Carolinas aufwächst, ist überhaupt nichts in Ordnung oder gar mit dem goldenen Schimmer der Nostalgie überzogen.
Sechs Jahre alt ist Kya, als ihre Familie zu erodieren beginnt. Zunächst flieht Kyas Mutter vor ihrem gewalttätigen Ehemann, dann verschwinden nach und nach die Geschwister, schließlich macht sich auch der Vater aus dem Staub. Halbherzige Versuche einer Sozialarbeiterin, Kya in die Gemeinschaft im nahe gelegenen Örtchen Barkley Cove zu integrieren, scheitern an der Ablehnung der dortigen Bewohner. Dort heißt Kya inzwischen nur noch "das Marschmädchen".
Owens schildert mit viel Gefühl, aber ohne Sentimentalität, wie Kya lernt zu überleben. Wie sie Muscheln sammelt und Fische räuchert und gegen Lebensmittel und Benzin für das kleine Boot tauscht. Wie sie die Tiere als ihre Freunde annimmt, weil niemand anders da ist, mit dem sie reden könnte. Wie sich immer wieder die Sehnsucht meldet, ihre Erfahrungen mit jemandem zu teilen. Und wie diese Sehnsucht letztlich in eine Katastrophe mündet.

Schriftstellerin Delia Owens schildert mit viel Gefühl, aber ohne Sentimentalität
Foto:Dawn Marie Tucker/ Hanser
Owens entwirft eindringliche, oft lyrische Panoramen der Stille und Einsamkeit. Lange Passagen des Romans erzählen allein von Kya und ihrem Alltag im Marschland; es sind die intensivsten Momente, weil es der Autorin gelingt, die Schönheit der Landschaft einzufangen, fast ohne dabei jemals in Kitsch abzugleiten. Und weil sie mit Kya eine unvergessliche Protagonistin geschaffen hat, wie sie in der Literatur nur wenige Vorbilder hat - ein verlassenes, verwildertes, verstörtes Kind, das sich zu einer selbstbewussten Frau entwickelt, die lesen lernt und leben lernt. Und lieben. Vielleicht auch hassen.
In diesen Passagen spürt man Owens eigene Erfahrungen mit einem Leben fernab der Zivilisation: Von den Siebzigerjahren bis in die Neunzigerjahre hat sie mit ihrem damaligen Ehemann die Natur Afrikas erforscht, Bücher wie "Der Ruf der Kalahari" waren Welterfolge in den Neunzigerjahren. Zuletzt lebte Owens allein im äußersten Norden Idahos, rund 30 Kilometer über Feldwege vom nächsten Café entfernt, wie sie in einem Interview sagte. Einsamkeit sei für sie ein Teil des Lebens.
Ein Sunnyboy stirbt
In ihrem Roman verwandelt sie aber nicht nur eigene Erfahrungen in eine Geschichte vom Erwachsenwerden unter extremen Voraussetzungen. "Der Gesang der Flusskrebse" hat auch Elemente von Kriminalroman, Gerichtsdrama und Romanze. Owens erzählt parallel vom Heranwachsen Kyas ab den Fünfzigerjahren und von polizeilichen Ermittlungen gegen sie in den Jahren 1969/70.
Gleich zu Beginn des Romans wird eine Leiche im Sumpf gefunden, Chase Andrews, früherer Sunnyboy und Womanizer - und ehemaliger Geliebter der inzwischen zur jungen Frau herangewachsenen Kya. Für die Bewohner von Barkley Cove ist klar: Das Marschmädchen hat Chase aus Rache dafür getötet, dass er sie sitzen gelassen hat. Und trotz dürftiger Beweislage fokussiert sich auch die Polizei auf Kya als Täterin.
Diese Parallelerzählung funktioniert so gut, weil der Leser sich fragt: Folge ich dem Leben einer Mörderin, oder wird einer jungen Frau, die gegen alle Wahrscheinlichkeit ein seltsames Glück gefunden hat, ein finales Unrecht angetan?
Preisabfragezeitpunkt
06.02.2023 10.21 Uhr
Keine Gewähr
Ob Delia Owens mit "Der Gesang der Flusskrebse" in den Kanon der US-amerikanischen Literatur aufgenommen werden wird, werden die Jahre zeigen. Ihre einzigartige Schöpfung aber, das "Marschmädchen" Kya, gehört schon jetzt in eine Reihe mit Mark Twains Huckleberry Finn, J.D. Salingers Holden Caulfield oder Harper Lees Scout Finch, den ikonischen Figuren des Coming-of-Age-Romans.