Sommer-Beziehungen Ein Langweiler findet die Liebe

Der preisgekrönte Bestseller-Autor Arno Geiger hat einen steifen Studenten zum Helden seines neuen Romans gemacht. Der lernt, nachdem sich seine Freundin von ihm getrennt hat, die aufregende Aiko kennen.
Schriftsteller Arno Geiger: "Das Leben kann auch gut und schön sein, wenn es zu nichts führt"

Schriftsteller Arno Geiger: "Das Leben kann auch gut und schön sein, wenn es zu nichts führt"

Foto: D.P. Gruffot

Ein Zwergflusspferd ist gleichmütig und gelassen, bewegt sich gemächlich durch sein Gehege und trottet ab und an träge zum Wasserloch. Ein lethargisches Tier. Man muss sich den neuen Roman von Arno Geiger exakt so vorstellen: frei von Bewegung, frei von Aufregung. "Selbstporträt mit Flusspferd" ist ein langweiliges Buch, mit dem der Autor baden geht. Im Zeitlupentempo.

Geiger erzählt die Coming-of-Age-Geschichte von Julian, 22, einem Studenten der Tiermedizin, der aus dem bäuerlichen Vorarlberg nach Wien gezogen ist, in die Stadt, der man ein besonderes Verhältnis zum Tod nachsagt. Und mit dem Tod wird Julian in diesem Sommer so seine Erfahrungen machen, in einem direkten und im übertragenen Sinn.

Zu Beginn des Sommers ist er noch mit Judith zusammen, seiner ersten Liebe, dem "Prototyp der unkomplizierten Frau", pragmatisch, schnörkellos, selbstsicher. Glücklich jedoch ist er nicht mehr mit ihr: Sie erscheint ihm zu nüchtern, "ein Charakter, wie mit dem Lineal gezogen"; die Zukunft an ihrer Seite erscheint ihm vorhersehbar. Julian hat Angst, etwas zu verpassen. Julian will sich trennen.

Doch dann trennt Judith sich von ihm, und er bekommt es so richtig mit der Angst zu tun: Was ist, wenn ich nie wieder einen Menschen finde, der mich liebt? Was ist, wenn sie meine große Liebe war? Was ist, wenn ich ihr noch in Jahrzehnten hinterher trauere? Er schreibt ihr seitenlange Briefe, und wenn er andere Frauen anspricht, rutscht ihm immer mal wieder der Name Judith raus, bei seiner Mitbewohnerin etwa, aber auch bei seiner Mutter. "Ein junger Mann mit Schmerzen sein, ist eine Ganztagsbeschäftigung." Und er hat große Schmerzen, denn es ist seine erste Trennung: "Ich musste mich nicht nur von Judith trennen, sondern auch von der in mich eingeschriebenen Idee der lebenslangen Liebe."

Ziellos wie eine Tschechow-Figur

Julian nimmt einen Ferienjob an, der ihm hilft, sich abzulenken: Er pflegt das Zwergflusspferd, das der emeritierte Tiermedizin-Professor Beham bei sich zu Hause aufgenommen hat, räumt die Flusspferdkötel weg, schneidet kiloweise Gemüse klein - und wünscht sich bald, ein so gelassenes Gemüt zu haben wie das dickhäutige, gemütlich vor sich hin vegetierende Tier: "Ich wollte mich am Strom dieser natürlichen Unbrauchbarkeit aufrichten, mich von ihm hinführen lassen an die Idee, dass das Leben auch gut und schön sein kann, wenn es zu nichts führt."

Der Witz ist: Auf gewisse Weise hat Julian ein Flusspferd-Gemüt. Er ist ein Langweiler im Niedrigenergie-Modus, vor sich hin grübelnd über banale Lebensweisheiten, sinn- und ziellos wie eine Tschechow-Figur. Ein vom Aussterben bedrohtes Wesen in einer jungdynamischen, durchdesignten Gesellschaft. Julians Sprache ist spröde, steif, gestelzt, wirkt manchmal parfümiert wie die Sprache eines drei Mal so alten Mannes im Tweed-Jacket. Es ist, als sei der Geist eines alten Mannes in den Körper eines 22-Jährigen gefahren.

Nun ist natürlich davon auszugehen, dass dem hochtalentierten Schriftsteller Geiger, Gewinner des Deutschen Buchpreises 2005, nicht einfach ein Lapsus unterlaufen ist, sondern dass er genau das wollte: einen Langweiler zum Helden eines Romans machen. Das Problem: Ihm gelingt das Porträt des Langweilers so überzeugend, dass sein Roman darüber langweilig wird.

Julian streitet sich mit seiner Mitbewohnerin über den Biomüll, den sie mal wieder nicht geleert hat, und über den Käse, den sie ihm aus dem Kühlschrank geklaut hat. Es sind Dinge, über die Mitbewohner nun mal streiten. Aber will man darüber lesen? Als Julian die Zeit auf einer Party mit seiner kleinen Schwester verplaudert, analysiert er das Gespräch still für sich: "Ein Thema war so gut wie das andere und alles zusammen eher substanzlos." So ist auch das Buch.

Verliebt in eine aufregende Frau

Bei der Flusspferd-Pflege verliebt Julian sich in die Tochter des Professors: Aiko, 27, Journalistin bei einem französischen Nachrichtenmagazin. Sie ist ein geheimnisvolles Wesen, fünf Jahre älter als Julian, ziemlich abgeklärt und erfahren und zielstrebig, eine aufregende Frau, aber als Julian sie das erste Mal küsst, lässt Geiger ihn das ebenso unaufgeregt wie umständlich vermelden: "Es gab keinerlei zaghaften Kuss im Angesicht des unendlichen Sternenhimmels, es war vom ersten Moment an so, dass sehr viel Speichel ausgetauscht wurde und dass Hände die anziehendsten Stellen suchten und fanden."

Falls jemand den Verdacht hat: Nein, die Geschichte spielt nicht in längst vergangenen Zeiten, sondern im Sommer 2004. Im Radio laufen die Beatsteaks und Mando Diao, im Kino "Lost in Translation" und "Die fetten Jahre sind vorbei", im Fernsehen die Olympischen Spiele von Athen und die Nachrichten von der verheerenden Geiselnahme im nordossetischen Beslan. Der Terrorakt ist nicht weiter wichtig für den Roman, es geht nur um den Kontrast: In Beslan passiert etwas, bei Julian in Wien passiert nichts. Nichts Ungewöhnliches zumindest.

Denn am Ende des Sommers ist natürlich eine Menge passiert in Julians unlebendigem Leben, wenn auch mehr auf der inneren als auf der äußeren Bühne. Es ist viel Zeit an ihm vorbeigestrichen, unendlich langsam. Zeit, in der er erfahren hat, wie grausam Trennungen sind: "Das sind die Tode, die man mit zweiundzwanzig stirbt." Zeit, in der er die Endlichkeit auch aller anderen Dinge erfahren hat, ganz nah und unmittelbar: Aikos Vater, der Professor, sitzt mit Krebs im Rollstuhl und benebelt sich tagein tagaus mit Gras und Alkohol, um die Schmerzen aushalten zu können.

Bald steht die nächste Trennung bevor.

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