Poetischer Cheng-Krimi von Heinrich Steinfest In Zeitlupe beschleunigen

Heinrich Steinfest
Foto: Burkhard Riegels/ PiperVielleicht klingt es ja tatsächlich genau so, wenn ein Körper aus großer Höhe auf dem Boden aufschlägt: "Der Aufprall verursachte ein Geräusch, wie wenn der Bug eines Bootes eine hohe Welle sticht." So zumindest beschreibt Heinrich Steinfest eine Szene aus dem Reykjaviker Konzerthaus Harpa, in der ein Mann von der Galerie stürzt und tot vor den Füßen von Markus Cheng landet. Der Privatdetektiv war eben hier mit dem Opfer verabredet und hatte sich Auskünfte erhofft, die ihm helfen sollten, seinen aktuellen Fall zu lösen.
"Der schlaflose Cheng" ist nach bald einer Dekade Pause Steinfests fünfter Roman über den einarmigen Wiener Ermittler mit chinesischen Wurzeln. Mit Cheng hat der österreichische Wahl-Stuttgarter eine der ungewöhnlichsten Detektivfiguren der deutschsprachigen Krimilandschaft entworfen, fernab von den Klischees des vom Leben gebeutelten Loners mit Alkohol- und Frauenproblem. Cheng ist ein Mann mit Stil und Haltung und löst seine Fälle mit eleganter Nonchalance - und dank seines tiefen Verständnisses für die Paradoxien des Lebens: "Manche Erkenntnis wurde nur möglich, indem sie nicht gedacht wurde."
Inzwischen ist Cheng dem Leben noch ein wenig mehr abhandengekommen als in den früheren Romanen, seine Patchworkfamilie aus dem bisher letzten Buch "Batmans Schönheit" ist nicht einmal mehr als Erinnerung präsent, Alkohol und Fleisch hat er ebenso abgeschworen wie der Liebe, Schlaf ist ein rarer Luxus geworden, was ja schon der Titel des Romans verrät. Auch neue Aufträge nimmt der Mittfünfziger nur noch selten und eher widerwillig an.
Zwischen Frankfurt und Island
Eine Ausnahme macht Cheng im Fall des Synchronsprechers Peter Polnitz, der in London im Gefängnis sitzt, weil er den Starschauspieler Andrew Wake getötet haben soll, dem er im Deutschen seine Stimme geliehen hatte. Polnitz' Tochter, überzeugt von der Unschuld ihres Vaters, überredet Cheng Beweise zu suchen, die ihn entlasten. Seine Ermittlungen führen ihn von Wien über Frankfurt und London bis auf einen Berg in Island und schließlich auf ein Schiff vor der Küste Grönlands. Dabei kommt Cheng einer ziemlich verdrehten Spionage- und Rachegeschichte auf die Spur - und einem lange zurückliegenden Verbrechen.
Eigentlich muss man das alles aber gar nicht so genau wissen, denn Steinfests Romane, die ihm viermal den Deutschen Krimipreis ein- und 2014 auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises brachten, leben am allerwenigsten von ihren Plots. Detektivgeschichten, lässt Steinfest Cheng den Schriftsteller und Father-Brown-Schöpfer G.K. Chesterton zitieren, "seien die bis jetzt einzige Form volkstümlicher Literatur, in welcher sich ein gewisser Sinn für den poetischen Gehalt des modernen Lebens ausdrückt".
Der schlaflose Cheng (Markus-Cheng-Reihe 5): Sein neuer Fall
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28.03.2023 09.10 Uhr
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Dieser Poesie, "der anheimfällt, was im Leben untergeht", spürt Steinfest in seinen Romanen nach, und er tut das auf ganz wunderbare Weise, mit einem Sinn für die Möglichkeiten von Sprache als reiner Schönheit einerseits und als Mittel zur Welterklärung jenseits der Beschreibung oberflächlicher Phänomene andererseits.
Steinfest spürt dem Wesen der Dinge nach, wie sein Detektiv einem Mordfall. Immer wieder schweift er ab, lässt seine Geschichte ruhen, um sich genauer einem zunächst ganz nebensächlich scheinenden Detail zu widmen. Durch diese gleichzeitige Verdichtung der Krimihandlung und die permanenten Exkurse ergibt sich ein seltsamer Effekt beim Lesen: als würde man beschleunigt, während man in einer Zeitlupe gefangen ist.
Zwischen Aldous Huxley und Max Frisch
Man könnte sogar soweit gehen zu behaupten, dass Steinfest zu lesen die "Pforten der Wahrnehmung" öffnet, ohne dass man dafür wie einst Aldous Huxley in seinem gleichnamigen Essay zu Halluzinogenen greifen muss. Auf jeden Fall schließt er die klassische Detektivgeschichte mit dem Fantastischen kurz. Mary Shelleys "Frankenstein" wird hier nicht nur als Chengs Lektüre zitiert, sondern gibt Steinfests Roman auch einen Rahmen.
Zusammen mit Motiven aus Büchern von Jules Verne, H.P. Lovecraft, Ian Fleming oder Max Frisch wird "Der schlaflose Cheng" zu einer fantastischen Reise durch die Literaturgeschichte. Da passt es nur zu gut, dass Chengs Reisebegleiter ein alter Bekannter ist: sein Hund Lauscher. Der ist zwar schon lange tot, aber wird immer wieder an seiner Seite gesehen, bis er am Ende dieses seltsamen Trips im ewigen Eis verschwindet, wie einst Frankensteins Monster.
In Chengs Welt triumphiert das Fantastische über das Faktische, die Poesie über die Notwendigkeit. Hier kann ein Buch über die Zubereitung außerirdischer Pilze zu einem internationalen Verkaufsschlager werden. Wäre diese Welt die unsere, würden sich nicht literarische Grobmotoriker (um Denis Scheck zu zitieren, der nicht nur Steinfest-Apologet ist, sondern auch im "Schlaflosen Cheng" Erwähnung findet) wie Sebastian Fitzek oder Simon Beckett um die Top-Position auf der Bestsellerliste balgen; auf diese wäre Heinrich Steinfest abonniert.