"Desperado" Mein Leben als Banause
Was bisher geschah:
Als Esoteriker setzte er eine Wohnung in Brand, als Masochist wurde er in den Uffizien ohnmächtig: Martin, der Desperado, kennt keine Hemmungen, wenn es um die Glücksuche geht. Aber wie weit haben ihn Eifer und Raffinesse bislang gebracht? Zeit, das bürgerliche Programm der Sinnstiftung gründlich zu überdenken. Am besten auf dem Sofa, bei einem Bier.
Mein Leben als Banause
Schade, dass Johnny Knoxville nie das "Hole of Fame" gedreht hat. Da hätte er seinen Schniedel durch ein Loch in der Wand stecken und alles hinnehmen müssen, was man damit anstellt. Knoxville war der Star von "Jackass", einer Extremsportschau mit Tabubruchgarantie. Man ließ sich in einem vollgekackten Dixi-Klo durchschütteln, legte sich mit Steaks behangen auf einen glühenden Grillrost oder ging mit Dauererektion zum Hosenschneider. Die Sendung lief zwei Jahre lang auf MTV und war eigentlich ein Fall für Amnesty. Wenn der Gemeinplatz, Fernsehen sei Folter, jemals zutraf, dann hier.
Zum Glück gibt es fast alle "Jackass"-Folgen auf DVD, ich schaue sie mir jetzt schon zum dritten Mal an und muss sagen: Sie werden immer besser.
Das Einzige, was Knoxville an Würdelosigkeit das Wasser reichen kann, sind die Talkshows, die jeden Nachmittag im deutschen Fernsehen laufen. Ich bin jetzt schon die zweite Woche krankgeschrieben, und mir ist immer noch keine Minute langweilig. "Mein Busen ist mein ganzer Stolz", heißt gerade das Thema bei Bärbel Schäfer. Mal sehen, wie der Ehemann dieser Blondine darauf reagieren wird, dass sie das gemeinsam Ersparte komplett in eine Brustvergrößerung investiert hat.
"Frau Härkle", gröle ich in Richtung Küche, "ham wir noch Chips?" Sie kann sich ruhig mal ein bisschen nützlich machen. So ein Bizepsmuskelabriss mit Entzündung des Schultereckgelenks ist eine ernstzunehmende Sache. Der italienische Arzt hatte irgendwas von Arm abnehmen gefaselt. Ich habe das zum Glück gar nicht so richtig mitgekriegt, weil die italienischen Schmerzmittel "Hossa!", sage ich da nur.
So gesehen waren die drei Tage in Florenz dann noch richtig erholsam. Im Hotel hatten sie einen Kinokanal, wo man alle "Freitag-der-13."-Filme hintereinander anschauen konnte. Meine Mutter zog als Furie der kulturellen Erbauung weiter durch die Stadt, während ich einen Serienkiller beim Metzeln dämlicher Teenager begleitete. Als die Wintersonne den Dom in ein strahlendes Monument florentinischer Baukunst verwandelte, wurde es mir zu viel: Ich schloss die Vorhänge, bestellte noch zwei Bier und schaute Teil vier, den mit dem Korkenziehermord. Eindeutig das Glanzstück der Reihe.
"Haaa-lo! Chi-hips!" Sie ist nicht wirklich auf Zack, die Frau Härkle. Liegt vielleicht an meiner neuen Lässigkeit, an diesem entspannten Umgang mit Zeit, Ernährung, Körperpflege, überhaupt allen Dingen, die den Alltag betreffen. Überträgt sich offenbar auf meine gute Fee. Na, mir soll's recht sein. Solange sie jetzt mal die Chips rüberwachsen lässt. "Und 'ne Spezi noch, bitte. Aber nicht so kalt wie die vorhin!"
"Was schauen Sie denn die ganze Zeit für einen Mist?" Frau Härkle klaubt Pizzakartons vom Boden, geht in die Küche und kehrt mit einem Stapel "Bild"-Zeitungen zurück. "Ich gehe jetzt mal zum Altpapier, und wenn ich zurückkomme, will ich was anderes sehen als Gabi, das Piercing-Wunder."
"Sie klingen schon wie Reich-Ranicki. Oder Roger Willemsen. Die verwechseln das Fernsehen auch mit einer Bildungsanstalt."
"Wissen Sie, wie ich so was nenne?", fragt Frau Härkle und klemmt eine Tennissocke ins Fenster, damit es nicht zufällt. "Wirklichkeitsverpestung!"
"Unter die Kulturpessimisten gegangen, ja? Ich sage Ihnen was " Ich falle mir mit einem Rülpser selbst ins Wort. "'tschuldigung. Also, das Medium hat sich von den volkspädagogischen Vorstellungen seiner Frühzeit glücklicherweise emanzipiert."
Frau Härkle marschiert zur Tür. "Brauchen Sie noch was von unten?"
"Diese Nacho-Soße mit Chili. Und wenn Sie schon bei Video World sind, schauen Sie doch mal nach, ob die die Killerkralle haben. Aber nicht das Remake, das kenn ich schon."
2
Zehn Tage mit Flips und Chips, Dosenbier und Cola, dazu "Super-Illu", Formel 1 und Wok-WM: Ich glaube, ich war noch nie so entspannt. Was habe ich nicht alles ausprobiert, um eine Perspektive zu finden: Selbstkasteiung und totale Waghalsigkeit, spirituelle Entgrenzung und ästhetische Rundumverknappung. Alles angestrengter Mist. Der Wahnsinn der Selbstoptimierung muss aufhören. Dieses Streben nach Höherem, nach Verfeinerung: bürgerliche Illusionen, die einen letztlich nur davon abhalten, Spaß zu haben.
Wer braucht diesen zivilisatorischen Ballast eigentlich noch? Die deutschen Führungskräfte jedenfalls nicht. Bei uns in Deutschland sind Chefs in erster Linie Technokraten, Organisationsfreaks und Geldanhäufer. Besitz und Bildung, ein unzertrennliches Paar? Spätestens seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr.
Nehmen wir Brenner: ein Emporkömmling mit dem Charme des Bullterriers. Er hat sich nach oben durchgebissen, leider macht er jetzt auf Neues Bürgertum. Fährt im Urlaub nicht mehr auf die Bahamas, sondern nach New York oder nach Miami zur Art Basel. Sie haben heutzutage ja alle die Kunst entdeckt, die Geschäftemacher. "GQ" und "Playboy" sind out, man hat jetzt "Monopol" und "Art" im Abo, und im SUV liegt der aktuelle Sotheby's-Katalog auf der Rückbank.
Dementsprechend soll natürlich auch unsere Jubiläumsparty ausfallen: schick, cool, kultiviert. Zehn Jahre Brenner & Friends, dafür wurde sogar ein Festtagskomitee gegründet. Und ich, als der kunstsinnige Beinahe-Dichter, wurde zum Leiter bestellt. Das heißt: Praktikant, ich und zwei Kollegen aus der Grafikabteilung haben jetzt zwei Jobs. Wir müssen das Tagesgeschäft abwickeln und eine tolle Feier organisieren. "Classy" soll es sein, hat Brenner gesagt, "classy", mit einem "Schuss Ironie". Soll er kriegen, nur dass ich classy ein bisschen anders übersetze: klasse Programm mit klasse viel Alkohol.
Ausgerechnet jetzt, wo so viel neu organisiert werden muss - ich werde den Partyablauf deutlich rustikaler gestalten, als ursprünglich geplant -, nervt der Chef mit seiner neuesten Erwerbung: "Skizze in Grau, nein, Blau", ein drei mal vier Meter großes Bild, das heute im Eingangsbereich der Agentur aufgehängt wird. "Installiert" sollte man eigentlich sagen: Das Werk, gemalt von Gerti Schwostner, einem angeblichen Shootingstar der neuen Leipziger Szene, muss mit einer speziellen Dübelkonstruktion in der Wand verankert werden. Hierfür sind sowohl Controlling als auch Lohnbuchhaltung in andere Büros evakuiert worden. Der Lärm ist so enorm, dass selbst Brenners Maserati dagegen klingt wie eine Nähmaschine.
"Kann schon was, der Schwostner", sagt der Boss und wiegt sich auf den Absätzen vor und zurück. Leise knarzt das Leder seiner Slipper.
"Klar doch", sage ich, lege den Kopf wie Brenner schräg, um die feine Maserung der blauen Farbfläche besser erkennen zu können. Oder ist sie grau?
"Ich liebe dieses Blau, schon vom ersten Moment an, als ich das Bild sah, war ich ihm verfallen." Ach herrje: Brenner beim Musendienst. Selbst als sein handgefertigter Schreibtisch, ein drei Meter langes Monstrum aus Glas und Chrom, angeliefert wurde, war er nicht derart ergriffen.
"Tolles Blau. Oder Grau. Wie man will", erkläre ich und schiele absichtlich. Brenners Blick trifft mich mit verachtungsvoller Härte.
"Es ist blau, gerade deshalb liebe ich es ja so."
"Blau, aber so was von", pflichte ich bei.
"Oder sehe ich aus wie jemand, der sich für einen Grauton begeistern könnte?" Brenners Unterkiefer mahlt angestrengt.
"Es ist mehr als blau, es ist die Konzentration von Blau." Ich blinzele kennerhaft in die graue? blaue? Ebene, die sich vor uns ausdehnt.
"Ist das blau oder grau, Fritzi?", fragt Brenner, als Friederike an ihm vorbeihuschen will. Sie hat das Briefing für eine TV-Spot-Reihe über Unfallversicherungen unterm Arm, auf der obersten Mappe steht "Deadline: Gestern!".
"Das Bild? Also, ist das nicht eher irgendwas zwischen mauve und braun?"
Brenner wirbelt herum. Packt Friederike an den Schultern, manövriert sie zur gegenüberliegenden Wand. "So, und jetzt noch mal: Ist das nicht ein unglaubliches Blau?"
"Blaugrau würde ich sagen."
Zieper, wie immer im grauen Dreiteiler, kommt vorbei, das Handy am Ohr. Gedankenverloren bleibt er vor dem Bild stehen, konzentriert lauschend. Brenner starrt ihn an.
"Wow, Ziepi", sagt Daniela. "In deinem Anzug verschwindest du fast vor dem Bild. Cooler Effekt." Zieper zuckt irritiert mit den Achseln und eilt telefonierend in Richtung Konferenzraum.
"Blau, grau, was soll der Geiz?", sage ich gelangweilt. "Kunst darf nicht komplizierter sein, als am Strand zu liegen und ein Bier zu zischen."
Brenner massiert sich mit einer Hand den Nacken, er atmet schwer.
"Stellen Sie's einfach vor dem großen grauen Ding ab", hört man Daniela aus dem Treppenflur. Kurz darauf hieven zwei Männer einen neuen Kopierer durch die Tür.
Rosé auf Eis
3
Die Balance von U und E war für mich lange das A und O. Unterhaltung, das waren amerikanische TV-Serien und Comicromane, Hip-Hop und die "Vanity Fair". E, das waren Bach-Kantaten und - Ingmar Bergman-Filme, Musil-Novellen und Theaterstücke von Tschechow. Man konnte sich süchtig zehn Folgen der Arztserie "Grey's Anatomy" auf DVD reinziehen, wenn man anschließend wenigstens drei "FAZ"-Feuilletons über die neuesten Opernpremieren las. Das neue 50-Cent-Album? Hörte man so lange, bis der iPod glühte, aber als Sühne musste es schon ein Liederabend sein, vorzugsweise Schubert oder Schumann, irgendwas in Moll und mit deprimierendem Text.
Dieser kulturelle Ablasshandel lief so lange gut, wie U Spaß machen durfte und E eben E war: ernst, erhaben, ehrfurchtgebietend. Irgendwann in den Achtzigern, erwischte mich dann der Interpretationsvirus: U stand auf einmal für Untergrund, eine geheime Tiefenschicht an Bedeutungen und Signalen, die nur der Kenner entschlüsseln konnte. Und wer wollte kein Kenner sein?
Der Preis dafür war allerdings hoch: U-Kultur war nur noch auf den ersten Blick ungezwungen und unseriös, sie verhandelte nun ebenfalls, wie die Hochkultur, die großen Themen (das Begehren, die Ökonomie, die Verhältnisse), nur eben unter dem Deckmantel des Entertainments. Wo E die Tränen kommen, hat U ein Augenzwinkern parat. Wenn E pathetisch wird, dann ist U ironisch. Letztlich ging es beiden aber um dasselbe: um Wahrheit, um Integrität.
Auf einmal war Gangsta-Rap eine raffinierte Form der Ideologiekritik und die Thrillerserie "24" ein Kommentar zum amerikanischen Imperialismus. Batman war nicht mehr ein Typ mit Latexklamotten und einem harten Punch, sondern das postmoderne Subjekt mit der Sehnsucht nach moralischer Letztbegründung. Selbst ein R&B-Video mit popowackelnden Schönheiten vor chromblitzenden Limousinen hatte seine Unschuld verloren, wurde zum Spiegel patriarchaler Machtverhältnisse oder postfeministischer Selbstermächtigung - je nach Blickwinkel.
Erst jetzt, wo ich hier in Ulrichs protzig eingerichtetem Esszimmer sitze, wird mir bewusst, wie stressig das ist: das Um-die-Ecke-Denken, der Zwang zum Esprit, der sich mittlerweile auf jeden Lebensbereich erstreckt.
Mein Cousin hat diese ästhetischen Abgrenzungsspielchen nie mitgemacht. Er hat sich instinktiv gegen die Ironisierung seines Geschmacks gewehrt. Bei Ulrich ist das Besteck aus Gold, der Esstisch von Philippe Starck, die Stühle sind aus einem Münchner Designerladen, der einging, als ihn Mooshammer aufgrund seines Ablebens nicht mehr unterstützen konnte. Zum Dinner gibt es Kaviar und Austern, weil man das eben so macht, wenn man Geld hat: Man serviert nicht irgendeine geistreiche Siebeck-Variante von Hausmannskost, sondern die Klassiker der Wohlstandsküche.
Wie jeden Dezember, wenn meine Mutter und ich zum traditionellen Adventsessen antreten, wird auch diesmal der falsche Wein serviert (Rosé auf Eis), die falsche Kleidung getragen (Loafers zum Smoking), die falsche Musik gehört (Bach, interpretiert von André Rieu).
Aber diese Stilbrüche haben Stil: Ulrich verzichtet konsequent auf E, und, was noch wichtiger ist, die Mätzchen der ironischen U-Kultur interessieren ihn ebenso wenig.
Und dann, als Brenda sich noch eine Cola einschenkt und wie üblich die Flasche gut sichtbar auf den Tisch stellt, gleich neben das Kaviarfass, sagt mein Cousin: "Ich hätte gern ein Bild vom Stepking, so - Andy Warhol-mäßig."
"Siebdruck", sagt Brenda mit vollem Mund. "In diesem Pop-Design. Wär doch total witzig."
Meine Mutter zieht eine Augenbraue hoch, kurz zittern ihre Nasenflügel, als habe sie einen üblen Geruch wahrgenommen. "Und wo würde dieses Glanzstück der Gegenwartskunst hängen?"
"Na, im Wohnzimmer", sagt Brenda und zerbeißt dabei einen Eiswürfel.
In diesem Moment wird mir klar, dass meine einzige Verbindung zu einem nicht von Selbstreflexivität verunsicherten Dasein in massiver Gefahr ist. Natürlich ist Ulrich derb, ungehobelt und gierig. Aber wie er so dasitzt, den Tavel hinunterstürzt, als sei es Limonade, und dabei stolz Brendas braungegerbte Hand tätschelt, ist er doch ein Monument der Zufriedenheit. Und noch wichtiger: Er meint es ehrlich. Mit sich, seiner Frau, selbst mit Brigitte, der er nun zum dritten Mal erklärt, wie toll sie aussehe und dass Florenz ihr gutgetan habe.
"Ulrich", sage ich und halte ihm mein Weinglas hin, "du brauchst diesen ganzen Popkram gar nicht."
"Ist dir nicht edel genug, was?", fragt mein Cousin. Unsicherheit flackert in seinen Augen.
"Nein, im Gegenteil!", antworte ich ziemlich laut, es muss am Wein liegen. Fünf Gläser sind ja doch eine Menge. "Es geht nicht um edel oder schick! Es geht doch darum, was uns gefällt, was uns Spaß macht. Was würde dir wirklich Spaß machen?"
"Im Wohnzimmer?" Ulrich schaut ängstlich zu Brigitte hinüber. "Also, wenn du so direkt fragst: ein Aquarium!"
Meine Mutter setzt ihr Migränegesicht auf: Augen halb geschlossen, Mund und Wangen leicht gestrafft, die Nüstern gebläht, als gebe es einfach zu wenig Luft an diesem Ort der Geschmacklosigkeit.
"Ein riesiges Aquarium, mit richtigen Piranhas drin." Ulrich holt zwei neue Flaschen von der Anrichte (eine Glasplatte, die auf zwei bronzenen Nackten ruht). "So wie in dem Bond-Film, wie heißt der gleich?"
"Du lebst nur zweimal. Der ist super! Aber ein Hai wäre auch cool", sage ich.
Brigitte und Brenda verlassen den Raum, um Kaffee zu holen. Ich nutze die Zeit für ein weiteres Glas Wein und einen kleinen Exkurs zum Thema Raubtiere und Innenarchitektur. Dabei entdecken Ulrich und ich unsere gemeinsame Faszination für Siegfried und Roy. Erst gestern habe ich eine Doku über die beiden Dompteure gesehen. So ein Leben, das wäre es! Darauf noch ein Glas!
Meine Mutter zitiert mich in die Küche, ich solle nicht so viel trinken, ich hätte am morgigen Abend schließlich eine wichtige Rolle zu spielen.
"Rolle?", frage ich genervt, und sie hält mir eine Standpauke: dass ich als Impresario und künstlerischer Leiter eines Firmenfests klar und präsent zu sein habe. Dass ich ihr bitte keine Schande machen solle, schließlich sei sie von Harro Brenner persönlich eingeladen worden. Warum, will sie mir nicht verraten. "Wir kennen uns geschäftlich", sagt sie nur knapp, und dann ruft Ulrich auch schon nach Bier, weil der Wein alle ist. Brenda antwortet sinngemäß, er solle seinen faulen Hintern selber bewegen, und wir müssen alle lachen. Eine tolle Frau, diese Brenda. Und dass sie dann doch zwei Sixpacks ins Wohnzimmer schleppt: echt groß.
"Sie ist wie ein Hai", sagt Ulrich. "Wie ein Hai, wenn es um uns geht, um die Sicherheit der Familie."
"Und du bist der Bond", sage ich, aber meine Aussprache ist nach zwei weiteren Bieren nicht mehr die beste, und Ulrich versteht Bund.
"Klar war ich beim Bund! Ich bin doch ein Kerl!"
Doch, er hat einiges weggesüffelt, der Herr Stepking, vor allem Maltwhiskey, den er mit Eis trinkt. "Ein Sakrileg!", raunt mir meine Mutter auf dem Weg zur Toilette zu.
"Wenn's schmeckt!", rufe ich ihr nach. "Außerdem kühlt es so schön ab!"
"Und weißt du, was auch abkühlt?", fragt Ulrich und schiebt mich torkelnd nach draußen in den Garten. "Das!" Ein Schneeball knallt mir an den Kopf.
"Das hätten Sie nicht tun sollen, Bond!" Ich werfe mich auf den Gastgeber, aber irgendwie hat er mich auf einmal im Schwitzkasten, und dann verschwindet mein Gesicht in einem Gemisch aus Laub, Schnee und Erde.
"Jetzt bist du getauft!", sagt Ulrich, umarmt mich und drückt mir einen Kuss ins verschmierte Gesicht.
"Saufen, taufen, raufen!", schreie ich und jage Ulrich durch den Garten. Nach einem kurzen Waffenstillstand - wir versuchen gemeinsam, "Stepking" in den Schnee zu pinkeln, was aber an einem Mangel an Koordination scheitert - geht die Hatz weiter. Schließlich hole ich ihn mit einem actionmäßigen Hechtsprung von den Beinen. Da liegen wir nun, Arm in Arm, und starren in die Winternacht.
"Schnuppe", gurgelt Ulrich und zeigt auf einen leuchtenden Punkt, der durchs Dunkel gleitet.
"Ist nur ein Flugzeug, Ulrich."
"Schnuppe", sagt er noch mal. "Kannsdirwas wünschn."
"Muss ich aber nicht, oder?"
"Dumussgarnix", sagt Ulrich, schließt die Augen und schläft ein.
Mit der Faust im Mund
4
Ich habe einen furchtbaren Kater. Oder ist das der Beginn einer Erkältung? Wir lagen ja dann doch mindestens eine halbe Stunde lang im Schnee. Bis meine Mutter nach draußen kam und sagte: "Ich habe die ganze Stadt abgesucht für diesen Anzug, und du suhlst dich damit im Dreck!"
Brigitte Frielings schmollt immer noch. Aus den Augenwinkeln wirft sie mir schneidende Blicke zu, schafft es aber gleichzeitig, mit Brenner zu flirten. Der Oberboss ist glänzender Laune, denn dies soll sein Abend werden: 10 Jahre Brenner & Friends, 49 Angestellte, Jahresumsatz 2008: 80 Millionen Euro. Solide Werbung, ohne großes Tamtam und kreativen Wasserkopf. Bei uns sind Ihre Wünsche Chefsache, lautet das Motto.
Die Kollegen vom Chill Global, dem Berliner Szenelokal, das für die Feier gemietet wurde, haben eine andere Einstellung. Ein paar lustlose Kellner streifen durch den Raum, halten den Gästen die Champagnertabletts hin, als seien es Almosen, und wer nicht schnell genug zugreift, geht leer aus und muss sich wie ich eine halbe Stunde an einem Bier festhalten. Es ist, um ehrlich zu sein, nicht mein erstes, ich habe auf eigene Faust die Küche mit 40 Paletten Holsten aufgerüstet. Dorthin führe ich Herrn Hoch, den PR-Mann der Coburg-Rammsteiner. "Nichts als diese Schampuspfützen", sagt er, seine gerötete Nase glänzt im Neonlicht. "Ich dachte, wir kriegen hier gar nix Richtiges mehr zu trinken." Er bewaffnet sich mit vier Dosen und zieht dankbar ab.
In der Folge entwickelt sich ein reger Publikumsverkehr zwischen Küche und Restaurant, ich schätze, jeder dritte der insgesamt 200 Gäste hat Lust auf Bier und Buletten. "Wo gibt's denn die?", fragt mich eine Frau, die sich später als Marketingchefin von S.E.N.F. Deutschland herausstellt.
"Sind leider alle. Hier haben Sie meine", sage ich lässig und nehme ihr den Teller mit Shrimpspießchen ab.
"Die ist aber schon angebissen."
"Nee, das ist das Design", antworte ich und lasse sie stehen. Ich kann nicht jedem Einzelnen erklären, warum Perfektionismus eine Sackgasse ist.
Deshalb habe ich auch das Showprogramm für heute Abend geändert. Roger Cicero, der eigentlich gebucht war, habe ich abgesagt. Jörg Thadeusz, der moderieren sollte, bekam eine höfliche, aber deutliche Mail. "Ich mag Ihren Stil, aber der Abend wird eher RTL als Arte, wenn Sie wissen, was ich meine." Statt Moderation setze ich auf Konfrontation. Enthemmung statt Beklemmung, lautet die Devise. Zur Einstimmung wird Praktikant ein paar zünftige Songs auf der Gitarre geben.
"Aber ich spiele erst seit einem halben Jahr, ist das wirklich okay?", hatte mein junger Kollege ängstlich gefragt, doch die Beteuerung, Brenner habe ausdrücklich nach etwas Spontanem, Ungezwungenem verlangt, beruhigte ihn schließlich. Dennoch zittert er, als er das kleine, für den Abend aufgestellte Podest betritt. Brenner schaut verwirrt, ist aber zwischen zwei S.E.N.F.-Leuten eingekeilt und muss deshalb mit ansehen, wie Praktikant erst "House of the Rising Sun", dann "Stairway to Heaven" zum Besten gibt. Begleitet wird er von Hoch, der einzelne Liedzeilen mitrülpst. Wo der Mann ein zweites Mikro herhat, ist mir schleierhaft. Bei "Smoke on the Water" sind sie dann aber schon richtig gut eingespielt, Praktikant und der Pressluftvirtuose.
Brenner rudert durch die Menge, die sich vor dem Duo gebildet hat, auf mich zu. Ich verdrücke mich schnell zur Longdrink-Bar. Dort wurden auf mein Geheiß alle Szenedrinks gestrichen, es gibt heute Abend nur Wodka pur. Der Effekt ist enorm: Statt der nervigen Höflichkeitsroutine, mit der man solche Veranstaltungen normalerweise übersteht, setzt eine rasante Lockerung ein. Da ein spontan angebotenes Du, dort ein ungezwungenes Küsschen, auch Zieper und Friederike sind beschwingt von der allgemeinen Ausgelassenheit. Sie teilen sich einen Barhocker und schlürfen gemeinsam Wodka aus einem Weizenbierglas.
Brenner hat mich nun doch noch erwischt, er blafft mir etwas ins Ohr, es klingt nach Besamung, könnte aber auch Abmahnung sein. Ich verstehe ihn nur schwer, weil ohrenbetäubende Musik aus den mannshohen Boxen wummert. Ein Wolfgang-Petri-Remix, wo kriegt man denn so was?, frage ich mich, während der Chef von einem Golfpartner umarmt wird. "Party, Koksen, Weiber, Bier, wir haben geile Zeiten hier!", singt der Mann und zieht Brenner auf die Tanzfläche.
Hoch und Praktikant sind, nach einer furiosen Interpretation von "Like A Virgin" mit Furzeinlage von der Bühne gestolpert. Dafür präsentiert jetzt Ebi, der Juniorkundenberater, seinen Fausttrick. Der geht so: Man macht eine Faust und steckt sie sich in den Mund, bis sie ganz verschwindet. Ich habe außer Eberhard noch nie jemanden gesehen, dem dies anatomisch möglich war. Bis zu diesem Abend. Doro Hulkmüller, die S.E.N.F.-Frau, kann es, Conny Glei, ihr Assistent, kann es. Meine Kollegin Karen kann es nicht. "Wie macht er das?", stammelt sie angetrunken. "Vielleicht erst die Finger gerade rein und dann die Faust?" Ich falle ihr buchstäblich in den Arm, und wir sinken in einen Berg aus Mänteln und Taschen. Irgendwer hat die Garderobe umgeworfen.
"Lass mal, ist nichts für dich", sage ich und massiere ihre geröteten Handknöchel.
"Sssssuper Party", sagt sie. Meine Mutter kommt vorbei, in der einen Hand einen Sektkelch, in der anderen eine Krawatte. "Du hattest recht, Martin", erklärt sie, um eine imaginäre Achse pendelnd. "Die Unterschicht ist die Avantgarde."
"Das habe ich nie gesagt, Mutter", flüstere ich. Warum flüstere ich eigentlich? Ach ja, Karen ist eingenickt.
"Was die Unterschicht heute denkt und macht", sagt Mutter, bedenklich schwankend, "erreicht morgen die gebildeten Kreise."
"Stimmt!" Karen ist wieder bei Bewusstsein, rappelt sich hoch und nimmt meiner Mutter den Sektkelch ab. "Früher hatten nur Proleten ein Tattoo, heute haben alle eins. Hausfrauen, Bankangestellte, Krankenschwestern. Wollen Sie meines sehen?" Karen zieht ihren Rock bis über den Bauchnabel. Sofort ertönen "Ausziehen!"-Rufe, aber meine Mutter stellt sich schützend vor ihre neue Freundin. "Ziehen Sie doch selber aus, dann wird eine Wohnung frei!" Beide Frauen lachen, und ich nicke kurz weg in meinem Nest aus Trenchcoats und Pelzen.
Als ich aufwache, laufen Ballermann-Hits. Die Sangria, die ich noch kurzfristig organisiert hatte, macht die Runde, und das Zersetzende der E- und der falschen U-Kultur hat endgültig ausgespielt. Nervöse Großstädter, die sich vereinsamt Streichquartette oder Leonard-Cohen-Songs reinziehen, das sind die Neurotiker und Asozialen von morgen. Hier aber ist für die vergrübelte Verzweiflung der Moderne kein Platz.
"Denk zum Beispiel an Naturalismus und Expressionismus", sage ich zu Zieper. "Da sollte die Kunst das Leben repräsentieren und ihm eine Richtung geben." Noch ein Schluck aus dem Flachmann, den mir Hoch in die Hand gedrückt hat, kurz bevor er mit Daniela auf der Toilette verschwand.
"Aber diese Utopie wurde nie eingelöst! Und deshalb geht es uns heute so mies!" Hört mir Zieper überhaupt zu? Wohl kaum, er hat ja das Gesicht in Friederikes Dekolleté vergraben. "Hübsches Dekolleté, by the way", sage ich laut vor mich hin. Brigitte Frielings, die sich plötzlich vor mir materialisiert hat, lallt entrüstet: "Hören Sie mal, ich könnte Ihre Mutter sein!" Ich schubse sie in die Menge, wo sie sofort, von Tänzern umringt, verschwindet.
Au weia, da ist Brenner, er krault durch die Meute, genau auf mich zu. "Du, du, du bist der Geilste!", schreit er mich an. Dann erklärt er mir, warum diese Party besser ist als alles, was er in den letzten zehn Jahren erlebt hat, "geiler als die Whirlpool-Abende mit Gunther Sachs". Ich kann kaum danke sagen, da zieht er mich schon auf die Bühne.
"Martin Frielings!", grölt er ins Mikrophon. "Das Partytier!" Das Publikum johlt, ich klatsche in die Hände. Ein Büstenhalter segelt auf mich zu, dann ein Höschen. Ich schnalle Brenner den BH auf den Kopf, den Slip stopfe ich in die Hosentasche.
"Frielings! Frielings!", skandiert Brenner. Die Gäste haben eine Wand aus wirbelnden, juchzenden Körpern um mich errichtet. "Frielings! Frielings!" Der Schlachtruf meines Triumphs. Er hallt bis in meine Träume hinein. Schlafen unter Applaus. Wunderbar.
Und auch das Aufwachen am nächsten Morgen ist süß: Ein Stück schwarzer Spitze erinnert mich daran, wie wichtig Enthemmung ist - vor allem im Rampenlicht.