Von "Americanah" bis "Unrast" Diese zehn Romane prägten das Jahrzehnt

Auswahl aus den zehn Romanen, die das Jahrzehnt prägten
Chimamanda Ngozi Adichie: "Americanah"
Eine Frau auf Zack
2013 war Obama noch US-Präsident, Feminismus aus der Mode und Migration ein Thema, das nicht permanent von rechten Regierungspolitikern instrumentalisiert, sondern über das insgesamt zu wenig gesprochen wurde. In diesem Jahr, das im Rückblick wie ein ahnungsloses Durchatmen scheint, veröffentlichte Chimamanda Ngozi Adichie ihren Roman "Americanah" über die Nigerianerin Ifemelu, die fürs Studium in die USA migriert, später aber nach Afrika zurückkehrt. Ifemelu ist eine Frau auf Zack, erlebt aber auch die bleierne Zukunftslosigkeit unter einem autoritären Regime und die Verlogenheit einer Demokratie, die Antirassismus und ökonomische Chancen ideell predigt, aber real nicht einhält.
Americanah: Roman (Fischer Taschenbibliothek)
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28.01.2023 14.49 Uhr
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"Americanah" funktioniert einerseits als Geschichte eines einzelnen Lebens und ist gerade deshalb universell lesbar. Andererseits behandelte Adichie Themen wie Identitätspolitik, Rassismus und Migration vielleicht auch so mühelos und frei, weil sie noch nicht endlos von Debatten überschrieben worden waren. Toll, dass der Stoff weiter erhalten bleibt. Auch wenn das weniger visionär ist, sondern eher typisch für die 2010er: HBO Max arbeitet an einer Serie mit Oscar-Preisträgerin Lupita Nyong'o in der Hauptrolle.
Eva Thöne
Virginie Despentes: "Das Leben des Vernon Subutex"
Unser Scheitern
Auf den ersten Blick ist die Trilogie "Das Leben des Vernon Subotex" der französischen Schriftstellerin Virginie Despentes eine bittere, manchmal lustige, vor allem aber scharf beobachtete Geschichte über das Scheitern. Da ist ein Mann, der in Paris einen erfolgreichen Plattenladen betrieb, immer da war, wo das wilde subkulturelle Leben tobte - und der nun auf der Straße lebt. Nichts in seinem Leben funktioniert mehr. Was ihn an der Welt zweifeln lässt, die ihn ausgespuckt hat.
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28.01.2023 14.49 Uhr
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Dass dieses Buch nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland so eine Resonanz gefunden hat, dürfte aber auch damit zu tun gehabt haben, dass Despentes mit großer Genauigkeit und Gnadenlosigkeit dem Umstand hinterherspürt, dass die Zeit der Subkulturen, die sich als Gegenkulturen verstehen, an ein Ende gekommen ist. Der Traum einer anderen besseren Welt, die das Leben in der Nacht bieten könne, ein Universum, wo die Zwänge des Spießerlebens nicht gelten, ist in der Ära des Kreativkapitalismus hinfällig geworden. Künstler und Kapitalist sind in der Start-up-Ära zu einer neuen Figur verschmolzen. Despentes erzählt von einem späten Träumer, der glaubte, diese Sphären ließen sich trennen.
Tobias Rapp
Dave Eggers: "Der Circle"
Immer noch ein Bildschirm mehr
Ein Refrain der Zehnerjahre waren die Warnungen vor der Macht der vier großen amerikanischen Technikfirmen Google, Apple, Facebook und Amazon - schon im SPIEGEL 49/2011 waren die vier Firmen, kurz GAFA genannt, gemeinsam auf der Titelseite als Protagonisten im "Web-Kampf um die Zukunft". Den Roman dazu veröffentlichte 2013 der in Kalifornien lebende Autor Dave Eggers (die deutsche Übersetzung erschien 2014).
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Eggers erzählt die Geschichte der Mittzwanzigerin Mae Holland, die bei dem Internetunternehmen The Circle anfängt und bald immer tiefer in dessen Logik hineingezogen wird. Die ist geprägt durch Wahlsprüche wie: "Alles, was passiert, muss bekannt sein" - keine Geheimnisse, vorgeblich zum Wohle der Menschheit natürlich. Die moralischen Verhältnisse sind klar verteilt in Eggers' Roman, damit passt er bestens in die Zeit, in der Datensammelwut zum Gemeinplatz wurde - und viele diese doch sorglos handelten. Nebenbei bot Eggers' "Circle" aber auch einen pointenreichen Blick auf die Bürokultur der Zehnerjahre - vieles ist vorgeblich freiwillig, und ständig kommt ein neuer Bildschirm dazu.
Felix Bayer
Elena Ferrante: "Meine geniale Freundin"
Gemeinsam gegen die Welt
Die Sensation von Elena Ferrantes Romantetralogie "Meine beste Freundin" liegt in der Selbstverständlichkeit, mit der hier ein historisches Tableau aus weiblicher Sicht entworfen wird. Selbst in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts ist diese Perspektive noch ungewöhnlich, vor allem wenn eine Schriftstellerin sich einen so großen Rahmen setzt und so viele Seiten füllt wie in "Meine geniale Freundin". Die beiden Heldinnen Lenú und Lina, die sich als Mädchen im Neapel der Fünfzigerjahre anfreunden, sind in ihrem Eigensinn, ihrer Sturheit und Sprunghaftigkeit dem Leben abgeschaut. Brutalität und Bildungsfeindlichkeit zum Trotz kämpfen die beiden Freundinnen um ein selbstbestimmtes Leben, sie ringen - jede auf ihre Weise - mit Vorurteilen, Sexismus, Benachteiligung.
Meine geniale Freundin: Band 1 der Neapolitanischen Saga (Kindheit und frühe Jugend) (Neapolitanische Saga)
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Lenús und Linas Geschichte ist die Geschichte aller Frauen während dieser Zeit. Ferrante erzählt davon leichthändig und sehnsuchtsentfachend, doch sie weicht nicht der bitteren Erkenntnis aus, dass der Aufstieg für Frauen nur um den Preis der Mimikry zu haben war - nur wenn Frauen die Männer möglichst gut nachahmten. "Meine geniale Freundin" ist ein großer Emanzipationsroman, millionenfach gelesen, vielleicht auch das Buch, das den Anfang einer Zeit markiert, in der Partizipation für Frauen leichter wird. In zehn Jahren werden wir das wissen.
Claudia Voigt
Wolfgang Herrndorf: "Tschick"
Das leichte, wilde, bunte Leben
Dieses Buch hat die deutschsprachige Literatur gelehrt, die Welt durch freche, kluge, alte Kinderaugen zu betrachten, wie es zuvor allenfalls Erich Kästners "Emil und die Detektive" vermochte. "Tschick" erzählt die Freundschaftsgeschichte zweier Außenseiterjungs, die in einem geklauten Lada auf eine sommerliche Spritztour quer durch Deutschland gehen. Das Land, das sie bereisen, ist ein heiterer Abenteuerparcours, in dem sie zum Beispiel dem Mädchen Isa, einem etwas trotteligen Polizisten und einem Einsiedler mit Gewehr begegnen.
Tschick: Roman. Ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2011, Kategorie Jugendbuch
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Die Verheißung, die "Tschick" bei seinem Erscheinen im Jahre 2010 bedeutete, bestand unter anderem darin, dass in der Gegend dieses Romans ein leichtes, wildes, buntes Leben für zwei Helden aus weit entfernten sozialen Klassen möglich schien - im realen, vom Hass zwischen allen möglichen Lagern geprägten Deutschland der Jahre danach hat sich diese Verheißung leider entschieden nicht erfüllt. Immerhin haben andere Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Stefanie de Velasco ("Tigermilch"), Bov Bjerg ("Auerhaus") und Wolf Haas ("Der junge Mann") inzwischen ein paar andere tolle Bücher über das Jungsein geschrieben, in denen man den von "Tschick" in die Welt gezauberten Ton weiterschwingen hören kann.
Wolfgang Höbel
Michel Houellebecq: "Unterwerfung"
Wunsch nach einer neuen Welt
Michel Houellebecq mit strähnigen Haaren, sichtlich gealtert, im Look einer alten Wahrsagerin und dazu die Prophezeiung: 2015 verliere ich meine Zähne. Das war das Titelbild der letzten Ausgabe des Satiremagazins "Charlie Hebdo" vor dem Attentat am 7. Januar 2015. Die Karikatur des Schriftstellers war im Lichte der Veröffentlichung seines neuen Romans "Unterwerfung" entstanden, dem wie immer ein ordentlicher globaler Hype vorausging, auch wenn nur wenige das Buch kannten.
Unterwerfung: Roman (Taschenbücher)
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Als es dann zu lesen war, schockierte es durch Passagen, die man nur prophetisch nennen kann: Maskierte Männer, so wird es beschrieben, ziehen durch Paris und feuern völlig ungehindert aus automatischen Waffen. Islamistische Terroristen, Terroristen, die mitten in Paris Massenmorde begehen, so etwas hatte Houellebecq befürchtet, erahnt und beschrieben.
Doch das verstellte den Blick auf ein zentrales Thema des Buches, nämlich die symbolische Erschöpfung des akademischen Milieus in Paris, der Mangel an Lebenssinn und Lebensfreude in westlichen Großstädten. Der Wunsch nach einer neuen Ordnung, in der wieder große Zeiten versprochen sind, bezieht sich keineswegs nur auf den Islam, mindestens ebenso sehr reagiert er auf die rechten Ordnungsversprechen eines Wladimir Putin.
Nils Minkmar
Karl Ove Knausgård: "Min Kamp"
König des Ich
Wann ist ein Leben es wert, erzählt zu werden? In der Romanserie "Min Kamp", auf Deutsch "Mein Kampf", seziert der Norweger Karl Ove Knausgård sein ganz banales Norwegerleben: seine Gedanken und Gefühle, seine Erinnerungen und Träume, die Sauferei seines Vaters, die manisch-depressiven Episoden seiner Frau, die Geburt seiner Kinder, Streit und Liebe und Sex, alles. Ein größenwahnsinniges Projekt, ein Werk des Jahrzehnts, und das gar nicht mal, weil manche ein ganzes Jahrzehnt brauchen werden, um es durchzulesen, sechs Bände, mehr als 4500 Seiten. Sondern weil ein Schriftsteller so ein Werk ein Jahrzehnt früher eher nicht geschrieben hätte. Und wenn doch, hätte es niemanden interessiert.
Sterben: Roman (Das autobiographische Projekt, Band 1)
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Wer bin ich und wer will ich sein, wie sehen mich die anderen und wie will ich gesehen werden? Das sind die Fragen, mit denen sich heute jeder beschäftigen darf - aber auch herumschlagen muss, auf Facebook, Instagram, Twitter. Der Mensch öffnet sich mehr denn je, er haut Gedanken und Meinungen und Gefühle schneller raus, er kehrt sein Innerstes nach Außen, stets auf der Suche nach Resonanz und dem Kern der eigenen Identität. Das Motto: Ich werde gesehen, also bin ich.
Und so kommt es, dass autobiografisch grundierte Erinnerungsprosa die Buchläden füllt. Die Bestseller von Joachim Meyerhoff gehören dazu, "Panikherz" des geläuterten Koks-Journalisten Benjamin von Stuckrad-Barre, "Die Welt im Rücken" des bipolar gestörten Literaten Thomas Melle, auch manche Bücher von Annie Ernaux, Thomas Glavinic, Andreas Maier. Das sogenannte Memoir ist das Genre des Jahrzehnts - und der Selbstentblößungsliterat Knausgård ist sein König.
Tobias Becker
Sasa Stanisic: "Herkunft"
Was uns zusammenhält
Kein Thema hat die Menschen in Europa und den USA in den Zehnerjahren so umgetrieben wie die Frage nach der Identität. Wer sind wir? Was hält uns zusammen? Und auch wenn es manchmal so aussieht, als wäre dieser Streit vor allem von rechten Populisten benutzt worden, um die Gesellschaften zu spalten, stimmt das nicht. Genauso lebte der Streit davon, dass die Gesellschaften überall bunter geworden sind - und alle möglichen Angehörigen sogenannter Minderheiten mit genau diesem Status nicht mehr abfinden wollten. Deshalb ist "Herkunft" von Sasa Stanisic so ein wichtiges und prägendes Buch.
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Da kommt ein junger Mann, in Bosnien geboren und als Junge vor dem Krieg geflohen, der nun in Deutschland heimisch ist, und erzählt davon, wie er wurde, was er ist. Deutsche Geschichten handelten lange von Schuld, von den komplizierten Verstrickungen deutscher Familien mit der Geschichte des Landes. Oder vom Weg in die große Stadt, von der Befreiung von den Fesseln der Provinz. "Herkunft" ist etwas ganz anderes. Neues. Dass sich auf Deutsch von Wurzeln erzählen lässt, die weit weg liegen und die sich nicht im Widerspruch zum Leben in Deutschland befinden. Das ist die deutsche Realität. Es hat eine Weile gedauert, bis sie ihren Weg in die Literatur gefunden hat.
Tobias Rapp
Olga Tokarczuk: "Unrast"
Die Kraft der Solidarität
2007 begann dieser fliegende Teppich von einem Buch - Anekdoten, kleine Essays und Mythen aus aller Welt, erzählt von einer Nomadin, dazwischen Zeichnungen, historische Karten und Miniromane - von Polen aus seine Reise; zwei Jahre später war er ins Deutsche übersetzt. Zehn Jahre später erhielt seine Knüpfkünstlerin, die 57-jährige Olga Tokarczuk, den Nobelpreis, retrospektiv für das Jahr 2018, in dem die schwedische Akademie unter ihrem #MeToo-Skandal zusammengebrochen war.
Unrast: Roman. Ausgezeichnet mit dem Nike-Literaturpreis 2008 und dem International Booker Prize 2018. Ausgezeichnet mit dem Nike-Literaturpreis 2008 und dem International Booker Prize 2018
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Hier spricht eine gelehrte Osteuropäerin, die ihre Freiheit nach 1989 zum Sammeln fremder Stimmen und zur Einkehr nutzt, als Stenografin der globalisierten Gegenwart und auf der Suche nach Nischen der Erfahrung. Das literarische Zeugnis eines Jahrzehnts, in dem die alten Muster und Solidaritäten ihre Kraft verlieren und das Nachdenken über die Natur endgültig politisch geworden ist. Am Schluss der Reise verheißt das Lächeln einer Stewardess, "dass wir vielleicht Neugeborene werden, diesmal zur rechten Zeit am rechten Ort".
Elke Schmitter
Juli Zeh: "Unterleuten"
Wir gegen die Welt
In einem Dorf irgendwo in Brandenburg kommt unsere Welt zusammen. Die erschöpften Großstädter mit ihren unausgelebten Visionen eines besseren Lebens von einst. Und die, die hier schon immer waren. Die Regierten. Die sich von der Politik und der Welt dort draußen noch nie etwas versprochen haben. Unser ganzes, desillusioniertes Land. Urbane Oberschlaumeier mit Burn-out, ländliche Lebensbewältiger mit Hass und Verachtung für alle Menschen außerhalb ihres Dorfes.
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Juli Zeh hat mit "Unterleuten" eine wahnsinnig unterhaltsame, lebensnahe, deprimierende Versuchsanordnung unseres deutschen Jahrzehnts geschrieben. Die Menschen im Rückzug aus der Politik. Beherrscht von Misstrauen. Unterwegs in die kleinsten denkbaren Gemeinschaften bei maximaler moralischer Selbstgewissheit. Die Fronten werden auf dem Land errichtet. Der Roman ist die Ist-Beschreibung unserer AfD- und Brexit-Welt. Abschottung als Rettung vor den Zumutungen unserer visionslosen Zeit. Die Romanwelt erscheint hoffnungslos. Die Hoffnung müssen wir selbst erarbeiten. Hier draußen. Jenseits der Bücher.
Volker Weidermann