Roman über Kinder in Indien Jai und die Detektive

Der Roman ist überwiegend aus der Perspektive eines Kindes erzählt (Symbolbild)
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Jai ist neun Jahre alt und lebt mit seiner Schwester und seinen Eltern in einer schäbigen Einraumhütte mit löchrigem Dach in einem Elendsviertel einer namenlosen nordindischen Stadt. Manchmal träumt er vom Fliegen, manchmal von einer Karriere als Gangsterboss, doch aktuell will er "der größte Detektiv der Welt" werden. Von Sherlock Holmes hat er noch nie gehört, seine Helden sind die TV-Ermittler aus den indischen Realityshows, die pausenlos im Fernsehen laufen, dem einzigen wertvollen Besitz seiner Familie.
Jai ist die Erfindung von Deepa Anappara, einer in Indien aufgewachsenen Journalistin, die inzwischen in England lebt. In "Die Detektive vom Bhoot-Basar" verwandelt Anappara ihre Erfahrungen aus ihrer Zeit als Reporterin in Delhi und Mumbai, in der sie viel in Elendsvierteln unterwegs war, in Fiktion.
Jai und seine Freunde, das clevere Hindu-Mädchen Pari und der muslimische Junge Faiz, basieren auf den unzähligen Kindern, deren Erzählungen Anappara während ihrer Recherchen angehört hat. Auch die Kindesentführungen, von denen der Roman erzählt, sind Teil des indischen Alltags - sie werden als Sklaven, Prostituierte, Soldaten missbraucht. Dennoch ist "Die Detektive vom Bhoot-Basar" kein Tatsachenroman, sondern eine Geschichte, in der sich das Reale und das Fantastische vermischen, geschildert aus der Perspektive eines Kindes.
Seit jeher erzählen wir uns Geschichten, um zu leben – und um zu überleben. Fiktionen helfen uns, die Welt zu verstehen, die Langeweile zu vertreiben oder mit unseren Ängsten klarzukommen. Als zwei seiner Schulkameraden verschwinden, flüchtet sich Jai in seine Detektiv-Fantasie und macht sich zusammen mit Pari und Faiz auf, die Kinder zu finden. Ein von Anfang an hoffnungsloses Unterfangen.
Die Vorbilder aus dem Fernsehen sind bei ihren ziel- und erfolglosen Ermittlungen ebenso wenig eine Hilfe wie im echten Leben die Polizei. Auch als immer mehr Kinder verschwinden, tut sie nichts, um sie aufzuspüren, agiert eher wie eine Schutzgeld-Mafia: "Sie belästigen die Ladenbesitzer, schlagen sich mit Gratisessen den Bauch voll und fragen diejenigen, die mit ihren Hafta-Zahlungen im Verzug sind, was ihnen lieber wäre: Bekanntschaft mit ihren Polizeiknüppeln zu machen oder Besuch von einem Bulldozer zu kriegen."
Ständiger Smog als Pendant zum Nebel in London-Krimis
Hafta ist der indische Ausdruck für Schmiergeld und wie viele andere – Basti für Armenviertel oder Bhoot für Geist – hat Anappara ihn im englischsprachigen Original auf Indisch belassen. In der ausgezeichneten deutschen Übersetzung von Roberto de Hollanda und Pociao wurde das übernommen und durch ein umfangreiches Glossar ergänzt. Die richtige Entscheidung, denn was anfänglich irritiert, steigert letztlich die Authentizität.
Der Basti, in dem Jai lebt, wird von Anfang an als eine kaputte Welt geschildert, eine Welt der Ungleichheit, der Ausbeutung und Korruption, eine Welt ohne Götter. Im Prolog heißt es: "Unsere Götter sind zu beschäftigt, um unsere Gebete zu erhören, doch Geister (…) hören immer auf unsere Worte, weil sie sich langweilen." Drei dieser Prologe gibt es im Verlauf des Romans und dazu je ein Kapitel aus der Perspektive eines der Entführungsopfer, ansonsten erzählt Anappara konsequent aus der Sicht des neunjährigen Jai.
Ein brillanter erzählerischer Einfall, denn so kann sie von den Zuständen in Indien sprechen, ohne zu analysieren, zu theoretisieren oder zu moralisieren. Anappara stellt das Elend nicht aus, sie klagt nicht an, sondern zeigt. Und sie ringt der im Kern tragischen Geschichte durch Jais kindlich-naiven und gleichzeitig naseweisen Erzählstil eine enorme Unmittelbarkeit und sogar eine komische Dimension ab, ohne allerdings eine Feelgood-Story daraus zu machen wie etwa Danny Boyle mit seinem Film "Slumdog Millionär". Die Realität verkommt bei Anappara nie zum pittoresken Hintergrundrauschen für eine amüsante Geschichte über clevere Kinderdetektive; Jai und seine Freunde sind keine Wiedergänger von Erich Kästners Emil oder Enid Blytons "Fünf Freunden", sondern Slumkinder, die sich vor der brutalen Realität immer wieder in eine Traumwelt flüchten.
Jai erzählt, ohne je um Mitleid zu heischen, von dem Dreck und der Armut, die seinen Alltag bestimmen, von der Welt seines Bastis, der im Schatten der Hochhäuser liegt, von einem vermeintlich besseren Leben getrennt durch Zäune und Wachmänner und aggressive Hunde, und der trotz aller Widrigkeiten das einzig mögliche Zuhause ist.
Ein Zuhause, das durch die Entführungen in Gefahr gerät. Die Polizei droht mit Räumung, um ihre eigene Untätigkeit und Unfähigkeit zu verschleiern, die Gerüchteküche brodelt: Stecken Menschen- oder Organhändler dahinter – oder doch böse Geister? Die rechtspopulistische Partei Hindu Samaj macht sich die Entführungen zunutze und beschuldigt die im Viertel lebenden Muslime, verantwortlich zu sein. Die Situation eskaliert, als auf der zum Basti gehörenden Müllkippe ein Fund gemacht wird, der das Schlimmste vermuten lässt.
Die Wahrheit bleibt verborgen in diesem Roman, dessen zentrale Metapher der allgegenwärtige Smog ist quasi als Pendant zum Nebel in klassischen London-Krimis. Der Smog schneidet Jai Grimassen, fährt ihm durchs Haar, "mit Fingern, die rauchig, aber zugleich feucht sind" oder legt sich ihm um den Hals "wie die Schlinge eines groben Stricks".
Deepa Anappara gönnt ihrem Helden kein Happy End, dafür sind die Verhältnisse in der Welt, die sie schildert, zu verzweifelt und zu zementiert, hier herrscht ein brutaler Kapitalismus, der die Menschen nachhaltig korrumpiert. Aber sie beendet ihren Roman mit einem Bild der Hoffnung. Jai, der so vieles verloren haben wird, blickt in den Himmel, und er sieht dort einen Stern: "Dieser Stern ist so mächtig, dass er die dicksten Wolken und den Smog und sogar die Wände durchdringen kann, die Mas Götter errichtet haben, um eine Welt von der anderen zu trennen."