Essays über Schönheit Können Daten pornografisch sein?

"Balloon Dog" von Jeff Koons: Versicherung oder Verzerrung des Selbst?
Foto: Sabine Glaubitz/ picture alliance / dpaByung-Chul Han ist ein außergewöhnlicher Philosoph. Während viele seiner Kollegen Berufsphilosophie unter Ausschluss der Öffentlichkeit betreiben, verfasst Han, der an der Berliner Universität der Künste lehrt, Essays für die Publikumspresse. Während andere dicke Wälzer für die Ewigkeit schreiben, veröffentlicht er jedes Jahr ein handhabbares Bändchen. Und statt sich in Spezialproblemen zu ergehen, will Han etwas sagen zu den Dingen, die Menschen wirklich bewegen. Zu Helene Fischer also, oder zur Biegsamkeit von Smartphones.
Er wird dafür geliebt: Seine bisherigen Bücher zu Themen wie Burn-out oder Transparenz haben sich gut verkauft, wurden von Journalisten und Museumskuratoren zitiert und halfen, aktuelle Debatten mit philosophischen Begriffen zu munitionieren.
Auch in Hans neuestem Buch, "Die Errettung des Schönen", kann man Sätze finden, die sich gut twittern oder in Katalogtexten zitieren lassen (zum Beispiel: "Die pornografische Dauerpräsenz des Sichtbaren vernichtet das Imaginäre" oder "Die Selfie-Sucht verweist auf die innere Leere des Ich"). Man kann sich einbilden zu verstehen, was der Philosoph damit sagen will. Man kann sich an Hans Metaphorik berauschen. Man kann aber auch nüchtern bleiben und fragen: "Klingt gut. Aber ist es vielleicht Quatsch?"
An Stelle des Schönen herrscht das Gefällige
In "Die Errettung des Schönen" versammelt Han auf knapp hundert Seiten 14 Kurzessays zum Begriff des Schönen. Er schreibt von Schönheit als Wahrheit, von Schönheit als Erschütterung, von Schönheit als Gerechtigkeit. Von Schönheit, die verborgen bleibt, und von Schönheit, die aufblitzt und sticht. Von Schönheit, die einlädt, selbst Schönes zu schaffen.
Um diese sehr unterschiedlichen Definitionen zu finden, durchstreift Han in "Die Errettung des Schönen" rund 2500 Jahre westlicher Philosophiegeschichte von Adorno bis Aristoteles. Gemein ist den Begriffen, so die These dieses Buches, dass sie in unserer Zeit nicht mehr vorgesehen sind. An Stelle des Schönen herrsche das Gefällige, schreibt Han. Die Ambivalenz sei der Eindeutigkeit gewichen, das Wissen der Information, die Erotik der Pornografie und die Tiefe der Glätte. "Das Glatte ist die Signatur der Gegenwart. Es verbindet Skulpturen von Jeff Koons, iPhone und Brazilian Waxing miteinander", so beginnt Han sein Buch und fragt: "Warum finden wir heute das Glatte schön?"
Es ist eine Frage, die zu Gegenfragen provoziert: Wann ist "heute"? Wer ist "wir"? Ganz genau will Han sich da offenbar nicht festlegen. Begnügen wir uns also damit, dass es grob gesagt um den Westen geht, um die Moderne, den Kapitalismus, das Internet. Wichtiger sind eine dritte und vierte Gegenfrage, die Hans Prämisse und seine Methode betreffen: Haben diese drei Dinge, künstlerische Skulpturen, Unterhaltungselektronik und Schamhaarrasuren wirklich so viel gemein? Ist es sinnvoll, den Begriff der Glätte als Materialbeschaffenheit mit dem Begriff der Glätte als Metapher zu vermischen?
Die Vermutung ist: Die Antworten lauten nein und nein. Es beginnt schon bei Hans erstem Beispiel, den Kunstwerken von Jeff Koons. Koons sagte, wer sich in seinem Balloon Dog spiegele (also in der großen, glänzenden Skulptur eines aus Luftballons geformten Pudels), der versichere sich dadurch seiner selbst. Byung-Chul Han deutet diese Aussage als Hinweis auf die Gefallsucht (= Glätte) des Künstlers. Doch damit macht er es sich zu leicht. Koons Aussage ist ironisch, selbst dann, wenn sie nicht ironisch gemeint sein sollte. Die Oberfläche des Balloon Dog ist zwar glatt, aber sie ist an keiner Stelle plan, sondern überall gewölbt. Wer sich in der Skulptur spiegelt, der versichert sich nicht seiner selbst. Im Gegenteil. Er sieht sich in einem Zerrspiegel wie auf dem Jahrmarkt.
Daten sind pornografisch, schreibt Byung-Chul Han
Ähnliche Ungenauigkeiten prägen viele der Beschreibungen von Gegenwartsphänomenen in "Die Errettung des Schönen". Über Daten etwa schreibt Byung-Chul Han, sie hätten "etwas Pornografisches". Der Grund: "Sie haben keine Innerlichkeit, keine Rückseiten, sind nicht doppelbödig. Darin unterscheiden sie sich von der Sprache, die eine totale Scharfstellung nicht zulässt." (Die Kursivierungen stammen von Han.) Ein Datensatz ist kein Gedicht, das stimmt, aber potenziell missverständlich und interpretationsbedürftig sind beide, nicht zuletzt, weil auch Daten oft sprachlich vermittelt werden - oder durch andere Zeichen, die es zu deuten gilt.
Selbstverständlich kann man eine Epoche zu beschreiben versuchen, indem man sich ihre Moden anschaut, das Brazilian Waxing zum Beispiel. Rebecca Herzig hat das neulich getan, in ihrer lesenswerten Geschichte der Körperhaarentfernung. Doch für Byung-Chul Han ist das Brazilian Waxing bloß eine austauschbare Chiffre unter vielen, nicht mehr oder weniger interessant als Touchscreens oder Autokarossen. Han bedient sich dieser Gegenstände, aber er befasst sich nicht mit ihnen: alles glatt, alles gleich, zumindest irgendwie.
Je länger man in seinem Buch liest, desto mehr verstärkt sich der Eindruck, Byung-Chul Han wolle in seiner Theorie des Glatten nicht durch widerborstige Empirie oder spröde Kontextualisierungen belästigt werden.
Ob 2000 Jahre alte Zitate oder kursorische Betrachtungen jüngster Moden: Alles muss sich nahtlos zusammenfügen. Ein Schelm, wer darin ein Symptom des Glatten sieht.

Byung-Chul Han:
Die Errettung des Schönen
S. Fischer;
112 Seiten; 19,99 Euro.