
Karikaturistin Marie Marcks: Bäume zeichnen, Blumen klauen, Hitler malen
Legendäre Zeichnerin Marie Marcks "An jeder Ecke waren Altnazis"
SPIEGEL ONLINE: Frau Marcks, am 25. August feiern sie ihren 90. Geburtstag. Juckt es sie ab und an noch in den Fingern, zum Zeichenstift zu greifen?
Marcks: Natürlich. Ich mache Fingerübungen, damit ich nicht völlig versteinere. Ich habe Glück. Meine Hände sind noch in Ordnung, sie sind ja immer benutzt worden. Zum Zeichnen - oder zum Blumen klauen. Aber mein Radius ist begrenzt. Ich beschränke mich auf das, wo ich mit dem Rollator hinkomme. Etwa die alten Platanen in meiner Straße; im Hochsommer lassen die ihre Rinde fallen, das sind oft schöne Figuren. Davon habe ich gestern welche abgezeichnet. Am Wochenende arbeite ich aber nur, was mir Spaß macht.
SPIEGEL ONLINE: Wie? Sie arbeiten? Sie werden 90!
Marcks: Naja, als Freiberufler ist man ja nicht gebunden an eine Altersgrenze. Ganz ehrlich, zwischen 60 und 80 war ich am produktivsten.
SPIEGEL ONLINE: Warum das denn?
Marcks: Das weiß ich auch nicht. Aber mit Karikaturen habe ich ja relativ spät angefangen, in den Sechzigern, da war ich Anfang 40. Zuerst für die Zeitschrift "Atomzeitalter". Wir waren mit dem Herausgeber befreundet und ich fragte, ob ich es mal probieren könne. Die ersten wurden von der "Süddeutschen Zeitung" nachgedruckt, für die ich dann 35 Jahre lang ein-, zweimal die Woche politische Karikaturen zeichnete. Es hat mir Spaß gemacht, aber das Honorar war lumpig: 25 Mark für eine Karikatur. Und die gab's nur, wenn sie gedruckt wurde.
SPIEGEL ONLINE: Wie lief das? Gab man Ihnen Themen vor?
Marcks: Nein, ich habe gezeichnet, was mir einfiel. Meine Kollegen waren nicht nur Männer, sie lebten auch alle in München. Die mussten nur in die Redaktion laufen, ihre Karikatur abgeben - und schon war sie da. Und ich saß eben in Heidelberg...
SPIEGEL ONLINE: ...und Sie schickten alles per Post nach München.
Marcks: Genau. Das hieß, dass ich nie aktuell sein konnte. Also habe ich mir längerfristige Themen vorgenommen, Jugend, Frauen, Neonazismus. Aber das erste, was mich aufregte, war die Aufrüstung. Deutschland war ja quasi Trainingsgelände für die Pershing-II-Raketen der Amerikaner. Ich hatte das Gefühl, ich habe meine fünf Kinder in eine hochgefährdete Welt hineingeboren.
SPIEGEL ONLINE: 1964 zeichneten Sie für die "Atoms for Peace"-Konferenz - und änderten dann Ihre Meinung. Wie kam's?
Marcks: Dass ich das später anders sah, verdanke ich unserem engen Freund Robert Jungk. Er war der Wissenschaftsjournalist schlechthin. Wenn ich etwas für meine Arbeit wissen wollte, rief ich ihn an. Als Mutter sieht man die Welt eben anders. Diese Perspektive kannte man von Karikaturen so nicht.
SPIEGEL ONLINE: Ihre Frauenfiguren wirken oft erschöpft. Wie hielten Sie's denn selbst mit der Arbeitsteilung?
Marcks: Damals waren die Männer nur Sonntagsväter. Ich weiß noch, wie wütend ich war, als mein Mann einfach die Tür zu seinem Büro abschloss, um in Ruhe arbeiten zu können. Später bekam er eine Professur in Kassel und es war klar: Der Vater ist aus dem Haus, da kann die Mutter nicht auch noch weg. Also habe ich mich gar nicht erst um eine Festanstellung bemüht. Erst recht nicht, als wir geschieden waren. Bis heute haben Mütter mit Beruf ein schlechtes Gewissen. Männer nicht. Aber ich glaube, ich habe geholfen, dass es den Frauen heute besser geht.
SPIEGEL ONLINE: Sie zeichneten Ihren Alltag. Haben sich Ihre Kinder darüber beschwert?
Marcks: Nur einer meiner Söhne sagte einmal: Du stellst uns bloß, die wissen doch alle, dass wir das sind! Aber sie haben mich eben inspiriert. Die Kleinste stand eines Morgens an meinem Bett und sagte: 'Mutter, ich habe so schlecht geträumt. Ich dachte, du bist entlaufen.' Daraus machte ich: "Graugestreifte Mutter entlaufen. Abzugeben bei Dr. Pingel in der Mozartstraße". Aber mir ging es nicht nur um Muttergeschichten, ich wollte auch zeigen, wie Männer Frauen behandeln.
SPIEGEL ONLINE: Zum Beispiel?
Marcks: Einmal war ich zu einem Abendessen eingeladen, lauter Männer und ich. Als die Hausfrau gefüllte Paprikaschoten kredenzte, entstand eine Pause - und mein Tischnachbar sah auf einmal, dass er neben einer Frau saß. Er fragte mich ganz geschraubt: Betätigen Sie sich auch auf wissenschaftlichem Gebiet? Ich dachte nur: Ich muss hier raus! Also nahm ich meine Handtasche, um auf die Toilette zu gehen - und rannte um mein Leben, um die letzte Straßenbahn nach Hause noch zu erwischen.
SPIEGEL ONLINE: Zwischen Männern und Frauen hat sich heute ja einiges geändert. Ihre Karikaturen gegen den Rechtsradikalismus könnte man aber heute noch genau so drucken.
Marcks: Ich finde auch, die sind hochaktuell. Die erste entstand in den Fünfzigern, als noch an jeder Ecke Altnazis waren: Ein abgesägter Baumstumpf mit einem Seitentrieb - Hitler. Als ich 12, 13 war, malte ich unseren Klassenlehrer als Hitler, das war Mitte der Dreißiger. Er war ein Ururur-Nazi und an Hitler-Feiertagen kam er immer in SA-Montur. Eine Lehrerin erwischte mich. Die nächste Stunde kam er in die Klasse, die Karikatur in der Hand. Es war totenstill. Und der guckte und guckte. Dann sagte er: "Das ist schön, darf ich das behalten?" Er hat mich nicht verpfiffen. Das war unsere Rettung.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie trotzdem weitergemalt?
Marcks: Ja. Als der Krieg ausbrach, malte ich das brennende Wilmersdorf, ein Aquarell größer als DIN-A0, ein riesiger Schinken. Unser Ausblick vom Dachgarten. Mein Vater legte die Hände zusammen und sagte: 'Komm, Herr Hitler, sei unser Gast und siehe, was Du angerichtet hast.' Ich merkte damals: Es reichte nicht, dagegen zu sein, ich wollte etwas tun. Und ich fand, eine politische Karikatur ist eine ganz gute Waffe.
Ausstellung. Marie Marcks, Caricatura Museum , Frankfurt am Main, 9. August bis 21. Oktober 2012.
Bücher:
Marie Marcks: "Du siehst nie, was ich für dich tue". (1974), Kunstmann 1997, 64 Seiten, 14 Euro.
Marie Marcks: "Marie, es brennt! Eine gezeichnete Autobiographie. 1922-1968". Kunstmann 1995, 202 Seiten, 24,90 Euro.
Marie Marcks: "Hast du jetzt den Überblick?". Kunstmann 2002, 120 Seiten, 14,90 Euro.
Marie Marcks: "Niemand welkt so schön wie du. Freud und Leid für Fortgeschrittene". Kunstmann 2005, 80 Seiten, 12,90 Euro.
WP Fahrenberg (Hrsg.): "Meister der komischen Kunst: Marie Marcks". Kunstmann 2011, 112 Seiten, 16 Euro.