
Tschetschenien-Roman: Versehrte Körper, gebrochene Menschen
Tschetschenien-Roman Ein Koffer voller Gebeine
Arbeiten Sie für die CIA? Diese Frage hört Anthony Marra häufiger, als er im Juli 2012 elf Tage durch Tschetschenien reist. Ein amerikanischer Tourist in der russischen Teilrepublik? Das erregt Aufsehen - und manchmal Misstrauen. Einmal antwortet er scherzhaft "Ja, klar", doch der Witz kommt nicht gut an.
Marras Debütroman "Die niedrigen Himmel" ist jetzt auf Deutsch erschienen. In einem Jahr, in dem sich der Beginn des Ersten Tschetschenien-Kriegs zum 20. Mal jährt. Und in einem Jahr, in dem der Krim-Konflikt die Weltöffentlichkeit beschäftigt.
Das Buch erzählt von versehrten Körpern und gebrochenen Menschen, von der Kostbarkeit der Erinnerung, verdrängtem Leid und den Narben der Geschichte. Es geht nicht um die Soldaten und die Schusswechsel, sondern um das zivile Leben in den Zeiten der beiden Tschetschenien-Kriege. Beschrieben wird etwa der Alltag in einer Stadt, durch die niemand gehen kann, "ohne sich die Scherben einer ganzen Fensterscheibe in die Schuhsohlen einzutreten".
Im Dorf Eldár ist die achtjährige Hawah Vollwaise geworden. Die "Föderalen" haben in der Nacht ihren Vater Dokka verschleppt. Achmed, ein Freund der Familie, bringt das Mädchen bei der Ärztin Sonja in Sicherheit. Vor ihrem Spital in Woltschansk gibt es einen einarmigen Wachmann, drinnen fast nur verwaiste Stationen. Die gebürtige Russin ist die einzig verbliebene Chirurgin der Stadt. Sie leidet unter Halluzinationen, lebt von Amphetaminen und gesüßter Kondensmilch.
Auch Achmed ist Arzt. Wegen seiner Liebe zur Kunst schwänzt er während des Studiums das Jahr in der Pathologie. Nun malt er Porträts für die Angehörigen von Verschleppten. Trotzdem spannt Sonja ihn im Krankenhaus ein. Bereits am nächsten Tag stehen sie zusammen am Bett eines Mannes, der auf eine Landmine getreten ist. Sonja reicht Achmed eine Säge und sagt: "Beinamputationen gehören hier zum Alltag."
Der Amerikaner liebt russische Literatur
Der Schriftsteller Marra ist 1984 in Washington D.C. geboren. In den Osten haben ihn die Neugier und die Liebe gezogen - die Liebe zur russischen Literatur: Er hat 2007 in St. Petersburg Kurse in russischer Sprache und Geschichte belegt, hat in Büchern viel über Tschetschenien recherchiert, unter anderem Anna Politkowskaja gelesen und die Memoiren des Chirurgen Chassan Baiew. Einen englischsprachigen Roman über die jüngere Geschichte der Region konnte er hingegen nicht finden - und so hat er ihn selbst geschrieben.
Die Orte Eldár und Woltschansk hat Marra erfunden, seine dort wohnenden Protagonisten aber eindrücklich zum Leben erweckt. Etwa Chassan, den verzweifelten Vater eines Waffenhändlers. Vier Jahrzehnte lang hat er an seinem über 3.000 Seiten dicken Abriss der tschetschenischen Geschichte geschrieben. Doch immer wieder muss er das Manuskript überarbeiten. Mit den politischen Kurswechseln verändern sich auch die Wünsche der Verleger. "Niemand wollte Bücher über die vorrussische Geschichte lesen, und genau deswegen veröffentlichte Moskau sie so gern."
Als junger Mann kehrt Chassan nach Abschluss seines Militärdiensts "in ein Tschetschenien ohne Tschetschenen" zurück: "Während er für die UdSSR gefochten, getötet und geschissen hatte, war die gesamte Bevölkerung (...) nach Kasachstan und Sibirien deportiert worden, weil Stalin sie der ethnischen Kollaboration mit dem faschistischen Feind beschuldigte."
Chassans Eltern überleben die Zwangsumsiedlung nicht. "Als Chruschtschow 1957, vier Jahre nach Stalins Tod, den Tschetschenen die Rücksiedlung gestattet, macht sich Chassan auf den Weg zu ihrem Grab, exhumiert ihre Gebeine und bringt seine Eltern zurück nach Hause - in ihrem eigenen braunen Koffer. Und er beginnt zu schreiben. Eine Geschichte seiner Eltern, seines Volkes, "dieses kleinen Teils der Menschheit, den zu vergessen die Welt fest entschlossen schien".
Vorurteile gegen Tschetschenen gebe es nicht nur in Russland, sondern auch in den USA, sagt Marra. "In Film und Fernsehen werden sie entweder mit organisiertem Verbrechen oder Terrorismus in Verbindung gebracht" - und das nicht erst seit den Anschlägen beim Marathon in Boston. Marra hingegen hat den Menschen zugehört. Auch deshalb ist sein Roman ein so wichtiges Stück amerikanischer Literatur.
Eines, das ganz nebenbei beweist: Nicht jeder Amerikaner, der sich für Russland interessiert, arbeitet für die CIA.
Anthony Marra: Die niedrigen Himmel. Aus dem Amerikanischen von Stefanie Jacobs und Ulrich Blumenbach. Suhrkamp Verlag, Berlin; 489 Seiten; 22,95 Euro.