Schlesische Familiensaga Eine Heimat, immer irgendwo dazwischen

Autor Szczepan Twardoch
Foto: Magda KryjakWas man sich alles anhören müsste, wenn die Erde sprechen könnte. Sie könnte pausenlos erzählen, Jahre würden vergehen wie Tage, und das Haar des Zuhörers würde erst grau, dann weiß und letztlich ausfallen. Die Erde vergisst nicht. Sie erinnert sich an alles.
Die Erde ist die Erzählerin in Szczepan Twardochs neuem Roman "Drach". Twardoch, 36, ist Schlesier und so etwas wie das Enfant Terrible der polnischen Literatur. Vor zwei Jahren erschien "Morphin", ein Roman, dessen Anti-Held ein Widerstandskämpfer im Warschau von 1939 ist. Ein Junkie mit zerrütteter Seele, der durch die zerbombte Stadt zieht. Ein polnisches Tabu.
Twardoch selbst stilisiert sich als weltläufiger Dandy, der auf dem schlesischen Land lebt, in einem modernen Haus im Dorf Pilchowice. Auf Facebook präsentiert er sich auch mal wie ein junger Hemingway des Ostens. Boxer, Waffenliebhaber, Rotweintrinker. Und das alles oft vor einem schlesischen Tableau, einem Zwischenort, den Twardoch Heimat nennt. Twardoch wirkt wie ein Dazwischen.
Xanax mit Wein runterspülen
Hat sich Twardoch mit "Morphin" noch ein kleines Teilchen Zeit aus der Geschichte rausgeschnitten, tischt er mit "Drach" ein ganzes Büffet auf. Es beginnt 1241 und endet 2014. Twardoch springt zwischen den Jahreszahlen und den Schicksalen.
Die Figur, um die sich einiges, wenn auch nicht alles dreht, aus der vieles entspringt und in der vieles mündet, heißt Josef Magnor, ein Schlesier, der unter der Losung "Von Gleiwitz über Metz nach Paris" in den Ersten Weltkrieg zieht, sich aber nicht als Teil von etwas Größerem fühlt, weil er als Schlesier nicht so recht weiß, was dieses Größere ist. Im Krieg tötet er Menschen, weil das seine Pflicht ist. Nach dem Krieg tötet er ein Mädchen und ihren Liebhaber. Warum? Das weiß nur die Erde.
Josefs Opa war Otto, stammte aus Schönwald, also Scheeweld, das später Bojkow heißen wird, und sprach einen mittelalterlichen deutschen Dialekt, den die Deutschen im Reich aber nicht verstanden. Josefs Urenkel wird Nikodem Gemander sein, Polnisch sprechen, seine krebskranke Frau für eine Jüngere verlassen, Xanax mit Wein runterspülen und an den Wänden seiner Wohnung die Fotos seiner schlesischen Ahnen, auch Josef, aufhängen, von deren Verstrickungen er weniger wissen wird als er denkt.
Zwischen brennenden Panzern
Das sind nur zwei von unzähligen Ästen, die von Josef Magnor abzweigen. Zwischen den Zeilen, da stehen Bergwerke, Schächte und Stollen, Streiks, Aufstände und Konflikte, Verbrechen, Kriege und Grenzen, die sich verschieben. Und da steht die Suche nach einer Identität auf einem Fleck Land irgendwo zwischen den Deutschen und den Polen, in Schlesien, zwischen brennenden sowjetischen und brennenden deutschen Panzern, zwischen Nationen und Ideologien.
Weil diese Geschichte nicht ein Mensch, sondern die Erde erzählt, ist es auch eine Geschichte darüber, wie sehr alles zusammenhängt. Der alte Pindur, der mit dem jungen Josef Beeren und Pilze sammelt, fasst das auf Wasserpolnisch, sprachgewordener Mix, zusammen: "Baum un Mensch und Stein sind dasselbigte." Dieser alte Pindur, der in einem Satz die Weisheit der Erde auf den Punkt bringt, wird später in der Klapse landen. Und aus Sicht der Erde wird das nichts bedeuten. Denn die Erde wiederholt beständig, dass nichts Bedeutung hat. Das müde Mantra einer Erzählerin, die schon alles gesehen hat.
Tod des Kaisers, Tod eines Kanarienvogels
Ein Roman über eine Familie, man denke an Thomas Manns "Buddenbrooks", ist nie nur ein Roman über eine Familie. So auch "Drach", der vor allem ein Roman über Sinn und Vergänglichkeit des Lebens ist. Über Leichen im Keller und auf den Schlachtfeldern. Über die Liebe: die geheime, die kurzweilige, die unerfüllte, die unerreichbare. Die eine, an die man sich im Sterbebett erinnern wird. Liebe unter Menschen, unter Tieren. Zwischen allem und nichts.
"Verschlungen sind die Wege der menschlichen Liebe", sagt die Erde in "Drach". "Verworrener als die Wege der Rehliebe und der Baumliebe. Alle aber führen an den gleichen Ort, zur Erde." Es ist auch ein Roman darüber, wie wenig so vieles, das uns heute so viel bedeuten mag, wirklich bedeutet, wenn man das Gedächtnis der Welt zu Rate zieht. Oder, um noch mal die Erde zu zitieren: "Hat das irgendeine Bedeutung? Keine und eine riesengroße, so wie alles."
"Drach" ist eine Herausforderung. So verschlungen und dicht, dass kaum Weißraum bleibt. In einem Rhythmus, der immer wieder hyperventiliert, zuweilen auch langatmig wirkt, aber nie erstickt. Der das Große, Tod des Kaisers, mit dem Kleinen, Tod eines Kanarienvogels, verwebt, als sei dies normal. Ist es aus Sicht der Erde auch. Hat ja alles keine Bedeutung.
Wer oder was oder wieso bin ich eigentlich?
"Drach" ist auch eine Chronik des Dazwischen. Twardochs Lübeck ist Schlesien. Ein Gebiet, das in seiner Geschichte zwischen Slawen und Preußen, Deutschen und Polen hin- und herschwappte. Ein zerfasertes Gebiet, dessen Mischcharakter sich vor allem in einer Sprache zeigt, die mal Polnisch und mal Deutsch ist; die mal Schlesisch, mal Schläsch, mal Slaski, und, wie beim alten Pindur, auch mal Wasserpolnisch heißt. Ein Gebiet, das beispielhaft für Fragen steht, die sich jeder mal stellt: Wer oder was oder wieso bin ich eigentlich? Und was hat meine Herkunft mit mir selbst zu tun?
Szczepan Twardoch hat seine schlesische Identität in einem Essay einmal als "einsame Identität" beschrieben. "Drach" führt dem Leser diese Identität nun so detailliert vor Augen, dass sie in all ihrer Verworrenheit, Tragik und Schönheit sehr nah scheint. Eine einsame Identität, die man teilt, ist nicht mehr ganz so einsam.

Szczepan Twardoch:
Drach
Aus dem Polnischen von Olaf Kühl
Rowohlt;
416 Seiten; 22,95 Euro.