Familienroman »Dschinns« Lauter Gefühlsgeheimnisse

So gut, dass man das Buch kaum weglegen kann: Fatma Aydemir beschreibt in ihrem neuen Roman »Dschinns« die Konflikte in einer Familie, die aus der Türkei auswanderte und in Deutschland nie richtig ankam.
Autorin Aydemir: »Ich bin einfach nur die Stimme in deinem Kopf«

Autorin Aydemir: »Ich bin einfach nur die Stimme in deinem Kopf«

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Sibylle Fendt / Ostkreuz / Hanser

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Rheinstadt. Man braucht gar nicht mehr als diesen Namen, schon klappen im Kopf die ganzen Standards einer deutschen Kleinstadt auf: Eine Fußgängerzone, die so groß ist, dass es für Eiscafé und Sparkasse reicht, aber nicht für ein H&M. Die Verwechselbarkeit der Reihenhäuser in den Wohnvierteln. Wo es alles gibt, was man braucht, aber es sich nicht anfühlt, als ob etwas vorangeht.

Rheinstadt existiert nicht, auch wenn der Name so klingt, als könnte man ihn sich nicht ausdenken. In Rheinstadt lebt Familie Yılmaz, um die sich Fatma Aydemirs neuer Roman »Dschinns« dreht.

Vater Hüseyin kam aus einem türkischen Bergdorf, weil Deutschland Arbeiter brauchte und er selbst Sicherheit und Geld für sich und seine Familie. Jetzt ist es Anfang der Neunzigerjahre, und die Zeit hat dafür gesorgt, dass die vier Kinder in der Familie Yılmaz Deutschland nicht gerade mögen, aber Deutschland wohl oder – öfter – übel ihr Zuhause ist. Während bei den Eltern klarer hervortritt, dass sie nie dort ankamen.

Das Ungesagte bricht auf

Da ist Hüseyin, der nach Jahrzehnten Schichtarbeit in Frührente geht, um sich in Istanbul den Luxus einer Wohnung zu leisten. Während er für die Zukunft der Kinder arbeitete, funktioniert seine Frau Emine zwar, schleppt aber eine große Traurigkeit mit sich. Da ist die älteste Tochter Sevda, sie lebt damit, dass auf ihr Haus mal ein rassistischer Brandanschlag verübt wurde und hat sich konsequent zur Restaurantbesitzerin hochgearbeitet. Hakan, ein netter, halbkrimineller Typ, der schon irgendwie klarkommt. Peri, die als Erste in der Familie studiert. Und Ümit, der Jüngste, der sich beim Fußballtraining in einen Freund verliebt.

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Aydemir, Fatma

Dschinns: Roman

Verlag: Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Seitenzahl: 368
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Preisabfragezeitpunkt

06.06.2023 13.50 Uhr

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Und da sind lauter Gefühlsgeheimnisse. Dinge, die man einander nicht gesagt hat, denn sie würden einen vom anderen entfernen. Oder hat man sich schon entfernt? Weil man viel zu lange mit den Erwartungen des Vaters gekämpft hat. Weil man neidisch auf die eigene Tochter ist. Weil man nicht aus der eigenen Haut kann und es einen Unterschied macht, ob man eine Studentin ist, die in ihrer Uni-Frauengruppe Judith Butler liest oder eine Mutter, die unter Depressionen leidet, aber nicht damit umgehen kann, weil sie das Konzept Depression nicht kennt.

Als Hüseyin plötzlich stirbt, bricht all das Ungesagte in der Familie Yılmaz auf, verschlingt sich im Laufe des Romans und entwickelt den Sog, den sehr gute Unterhaltungsliteratur ausmacht und der dafür sorgt, dass man »Dschinns« kaum aus der Hand legen kann.

Fatma Aydemir veröffentlichte vor fünf Jahren den Debütroman »Ellbogen«, damals erzählte sie von einer jungen Deutschtürkin und ihrer Wut und etablierte sich als eine der wichtigsten Stimmen einer Generation von neulinken und migrationsbewegten Autorinnen und Autoren.

»Dschinns« nun ist ein fast epischer Familienroman. Kinder und Frau eilen nach Istanbul, um bei der Beerdigung von Hüseyin dabei zu sein. Sie alle treffen sich in der Türkei, und erst mal scheinen sie nicht viel mehr gemeinsam zu haben als die Abscheu vor der neuen Wohnung, mit der Hüseyin versucht hat, die eigene Geschichte noch zu einem guten Ende zu führen: »Vier Zimmer, die an Erschöpfung und Tod erinnern, und sonst an nichts.«

Das Buch ist keine Abrechnung

Aydemir fächert in jedem Kapitel aus der Perspektive eines Familienmitglieds auf, warum das gute Ende eben nicht drin ist: Tochter Peri, die in Frankfurt studiert, merkt, dass sie seit Jahren nicht mehr an ihren Vater gedacht hat. Die Älteste Sevda hat schon lange keinen Kontakt mehr zu den Eltern, weil die sie im Stich ließen, als sie ihren Mann verlassen wollte. Und Ümit würde mit seiner Mutter nie über seine Gefühle für Jungs sprechen.

Es liegt eine Gerechtigkeit in Aydemirs Erzählweise, jeder und jede bekommt Raum, wird gesehen; nur bei den Nebenfiguren zeichnet sie etwas flach. Manche Kritikerinnen monierten auch , dass sich das Deutschlandbild, das Aydemir zeichnet, aus Klischees speise und zu widerspruchsfrei und zu glatt düster sei. Ja, die fast durchweg als schlecht gezeichnete Erfahrung mit dem Land und seinen homophoben oder rassistischen Einwohnern spielt eine Rolle, sicherlich hat Aydemir ihren Plot auch gezielt Anfang der Neunzigerjahre angesiedelt, zur dunklen Nachwendezeit der rassistischen Brandanschläge. Aber eigentlich nimmt sie dieses Deutschland gar nicht so wichtig, es ist nicht der Protagonist. Das Buch ist deshalb auch keine Abrechnung.

Ihren Fokus – und damit auch den Bereich, wo Widersprüche wichtig und interessant werden – legt Aydemir auf ihre Figuren, die erst jetzt, da ein geliebter Mensch gestorben ist, merken, dass sie auch schon länger neben sich stehen. »Dschinns« ist kein unpolitischer Roman, und die Migrationserfahrung spielt bei jedem und jeder eine große Rolle. Aber es ist mehr ein Buch über Trauer und die Wege, die sie in diesem eigentümlichen Geflecht Familie nimmt.

Am deutlichsten wird das in einer Szene, in der die Mutter Emine mit ihrer ältesten Tochter Sevda spricht, zuvor herrschte jahrelang Schweigen zwischen den beiden. Es fasst einen als Leserin an, wie sich die beiden Frauen dabei im Kreis drehen, nicht aus der eigenen Situation heraustreten können – eigentlich könnten sie sich ähneln, nur 16 Jahre liegen zwischen ihnen, aber Emines Geschichte ist so traurig, dass sie ihre Tochter nie richtig gut behandeln konnte, und Sevda ist nicht in der Lage, ihr das zu verzeihen.

Aydemir beschreibt die Situation aus Emines Perspektive, aber sie wählt als Erzählstimme hier – im Gegensatz zu den Kapiteln, die die Lebenswelt der Kindergeneration beschrieben – die direkte Ansprache: »Ich bin einfach nur die Stimme in deinem Kopf, Emine. Ich bin nichts ohne dich. Also sag mir, wer bist du?«

Es ist ein kluger Schachzug. Emine ist, wie sie ist, weil sie erst keine Verantwortung für ihr Leben übernehmen durfte und es dann später nicht mehr konnte. Die Stimme nimmt ihr diese Last ab. »Du findest die Wohnungstür auch ganz ohne Licht, du kennst den Weg, das hier ist dein Zuhause, Emine.« Es liegt eine große Fürsorglichkeit in diesem Du und ein Ende, das keinesfalls gut, aber auch nicht nur schlecht ist.

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