Roman über die Vernetzung der Welt Error: Overload!
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Alles, was zu unbedeutend ist, wird abgerundet. Dadurch verbirgt die Null in der Computertechnik eine ungewisse Menge sogenannter dunkler Zahlen. Ein Bild, das Matthias Senkels Roman "Dunkle Zahlen" auf die Computergeschichte und die Planwirtschaft der Sowjetunion überträgt. Hier verschwinden jedoch nicht nur Rechenwerte, sondern ganze Menschengruppen.
Für solche Geschichten will selbstverständlich niemand verantwortlich sein. So verschwindet der Autor samt Verlag vom Buchcover auf den Buchrücken. Beim Aufschlagen des Buches nimmt stattdessen unvermittelt ein Erzähler eine Literaturmaschine, die GLM-3, per Druck auf die Eingabetaste in Betrieb. Was sie produziert, ist ein sowjetischer Spionageroman über die Vernetzung der Welt und die russische Literaturgeschichte.
Es folgt ein Inhaltsverzeichnis, das ungeordnet und mehrfach verzweigt ist und zudem zwei Anfänge vorgibt. Das erste Kapitel holt in der Mitte des Buches weit aus und erzählt im 19. Jahrhundert von dem russischen Dichter Gavriil Teterevkin und seinem "eisernen Golem", einer Maschine zur allumfassenden literarischen Welterfassung.
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Oder die Handlung beginnt doch, auf Seite zehn, und erzählt von Moskau in den Achtzigerjahren. Die internationale Spartakiade junger Programmierer steht kurz bevor, doch die gesamte kubanische Nationalmannschaft verschwindet auf dem Weg vom Flughafen zum Hotel - während es sich, in eben diesem Hotel, der sowjetische Geheimdienst bequem macht. So beginnt für die kubanische Übersetzerin Mireya eine gehetzte Suche durch Moskau.
Wo auch immer man zu lesen beginnt, schon nach wenigen Seiten wird klar, dass der Roman von Matthias Senkel keiner konventionellen Erzählstruktur folgt. Das randomisierte Erzählen hatte bereits in seinem Debütroman "Frühe Vögel" (Aufbau Verlag) einen Testlauf und wurde mehrfach ausgezeichnet. Ein weiteres Leitmotiv scheint die Verknüpfung von Technikgeschichte und Kultur zu sein. Nun, sechs Jahre später, ist der 1977 in Thüringen geborene Autor mit "Dunkle Zahlen" für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik nominiert.

Matthias Senkel
Foto: DietzeDas Großartige des Romans liegt in der ausgefeilten Form. Matthias Senkel verfeinert die nicht lineare Erzählstruktur seines Debütromans und erinnert dabei an die literarischen Experimente von Julio Cortázar, Fjodor Dostojewski und der französischen Literatur des Nouveau Roman. Er beherrscht es meisterhaft, die Handlung in kleine Szenen zu zerlegen und auch das Romanhafte unterhaltend durch Dramentext und Comics, wissenschaftliche Fußnoten, Fotos und schließlich ein Gedicht zu brechen.
Ein Poem aus einfachen binären Codes, das der Roman im Untertitel zu sein vorgibt. Und tatsächlich ist es ein endloses Programm, das in zahlreichen gleichzeitigen Schleifen nicht mehr als einen Buchstabensalat generiert. Das entspricht nicht nur der beschriebenen Literaturmaschine, sondern auch dem technischen Problem eines solchen Vorhabens. Matthias Senkel schreibt auch Lyrik, die er hier verwebt. Um es mit einer seiner Figuren zu sagen: "Das hat eine formale Schönheit, ganz ohne jeden Beigeschmack."
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Die Welt des Romans ist in seinen Bruchstücken über Zeitebenen hinweg miteinander vernetzt und je nach aufgenommener Information verändert sich die Lesart - es gibt nicht nur eine lesbare Romanrealität. Das äußert sich immer wieder in eleganten Überleitungen oder assoziativen Kontrasten, aber besonders eindrucksvoll in einer Schlüsselszene des Romans.
Der unbeteiligte Erzähler beobachtet eine seiner Hauptfiguren, erzählt seine Gedanken. Leonid Michailowitsch lauscht allein einer Tonbandwiedergabe. Knacken aus den Lautsprechern. Stimmen. Und unvermittelt steht er auf und verlässt den Raum ins Badezimmer. Das Tonband läuft weiter und damit die Zeit. Drei Seiten lang, während sich beim Lesen das Gefühl einstellt, dass hinter der verschlossenen Badezimmertür die Handlung ohne Lesende und Erzähler weitergeht. Es ist eine kleine, aber beeindruckende Szene, die die Gleichzeitigkeit einer vernetzen Welt verdeutlicht - unserer Welt, die Senkel in seinen Roman übersetzt.
[Story overload]
Und doch hat "Dunkle Zahlen" einen säuerlichen Beigeschmack. Es erzählt nämlich eine halb fiktive, halb reale Geschichte zwischen den Jahren 1821 und 2023. In den zwei wichtigsten Handlungssträngen verknüpft Matthias Senkel die sowjetische Informatikgeschichte mit Bezügen zur russischen Literatur und sozialistischen Kultur. Das ergänzt er mit witzigen, aber vor allem ausschweifenden Anekdoten über die gesellschaftlichen Reibeverluste der sowjetischen Planwirtschaft, Josef Stalins Schattenspieler, eine Witzepolizei und 63 wiederkehrenden Figuren - kurz: 488 Seiten inhaltlicher Overload!
Preisabfragezeitpunkt
31.03.2023 05.13 Uhr
Keine Gewähr
Als die Sowjetunion zerfiel, war Senkel noch ein Kind. Die elektronische Datenverarbeitung und die Sowjetunion in dieser Überfülle an Details beschreiben zu können, erfordert eine so tiefgehende Recherche, dass man von einem Fleißroman sprechen möchte. Senkel erzählt so kleinteilig und authentisch, dass sich die Lesenden in einer Welt wiegen, in der sie fast "Druschba!", das deutsch-russische Grußwort für Freundschaft, rufen möchten.
Wenn Senkel nicht doch auch immer wieder in banalen Einzelheiten und internationalen Querverweisen über das Ziel hinausschießen würde und damit die Speicherkapazität jedes Gehirns überfordere. Das passt zwar zur Vernetzung der Welt, lässt die Lesenden aber häufiger an eigene Verständnisgrenzen stoßen als eigene Zugänge finden.
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