
Reportagen aus Mittelamerika: Der Staat flieht vor der Narco-Mafia
Narco-Kriminalität in Zentralamerika Alle Macht den Drogen
In dem Brunnen liegen Leichen, möglicherweise ein oder zwei Dutzend. So genau weiß das niemand, denn die Toten konnten nie gezählt werden. Geschweige denn geborgen. Der Brunnen der kleinen Gemeinde im Westen El Salvadors, in dem verschiedene Gangs ihre Opfer entsorgen, ist 55 Meter tief, aber keine zwei Meter breit. Um die Leichen zutage zu fördern, muss von der Seite ein langer, tiefer Tunnel gegraben werden.

Óscar Martínez:
Eine Geschichte der Gewalt
Leben und Sterben in Zentralamerika.
Verlag Antje Kunstmann; 300 Seiten; 24,95 Euro.
Buch bei Amazon: Óscar Martínez - Eine Geschichte der Gewalt. Buch bei Thalia: Óscar Martínez - Eine Geschichte der GewaltEin Gerichtsmediziner nimmt im Jahr 2010 die Aufgabe an. Doch in der Regenzeit muss er beim Graben pausieren, und die Regierung nimmt ihm immer wieder die Gerätschaften ab. 2013, nach über 800 Tagen, ist der Gerichtsmediziner immer noch am Buddeln, sein Ziel erscheint ferner denn je, die Leichen verwesen weiter.

Óscar Martínez
Foto: Verlag Antje KunstmannZu finden ist diese grausame Sisyphos-Geschichte in dem Buch "Eine Geschichte der Gewalt", das Langzeitreportagen des salvadorianischen Journalisten Óscar Martínez bündelt. Die Storys um Massengräber und Massenvergewaltigungen, um Massenverelendung und Massenabwanderungen haben im Kern alle dasselbe Thema: die Aushöhlung, ja beinahe Abschaffung des staatlichen Gewaltmonopols in fast allen Ländern Zentralamerikas.
Hier geht alle Gewalt von den Drogen aus. 850 Tonnen Kokain, so Martínez, würden jährlich in den Andenländern Südamerikas produziert, 90 Prozent davon gingen in Richtung USA durch Zentralamerika. Und mit jedem Kilometer, die der Stoff zurücklegt, steige sein Dollarpreis. Koste das Kilo in Nicaragua noch 6000 Dollar, sei es in El Salvador schon 11.000 wert und in Mexiko bis zu 20.000. Eine geografisch bedingte Gewinnkurve, von der profitiert, wer das Sagen hat. Und das sind in El Salvador, Honduras oder Guatemala eben kriminelle Banden. Oder korrupte Teile des Staates. Oder beide Elemente zusammen.
Der Rückzug des Staates aus den Kampfzonen der Narco-Mafia
Die Auswüchse der Gewalt sind bekannt. Christian Povedas erschütternde Dokumentation "La Vida Loca" thematisierte die Vernichtungslogik zwischen den rivalisierenden Gangs Mara 18 und Mara Salvatrucha in El Salvador, der Mafia-Experte Roberto Saviano skizzierte in seinem Kokswirtschaftsdossier "Zero Zero Zero" die Gewaltspirale in Mexiko als martialisches Kettensägennummernspiel. Autor Martínez nun zeichnet in seinem Reportageband - halb Sittengemälde, halb Systemanalyse - nach, wie die Narco-Kriminalität jeden Winkel gesellschaftlichen Lebens in Zentralamerika durchdringt.
Martínez' ausladende Reportagen, in denen die umständliche und unkonventionelle Recherche stets mitthematisiert wird, sind zuvor beim investigativen Online-Magazin El Faro erschienen . Für das Buch hat der Autor sie in drei Blöcke gegliedert: In dem ersten Teil mit dem Titel "Einsamkeit" beschreibt er den Rückzug des Staates aus den Kampfzonen der Narco-Mafia. Es geht zum Beispiel um Bandenbosse in El Salvador, die nicht nur den Kokstransport überwachen, sondern gleich auch noch an der Müllabfuhr und anderen kommunalen Geschäften verdienen.
Oder um Kleinbauern im nördlichen Naturschutzgebiet von Guatemala, durch das die meisten Drogen fließen. Die Kleinbauern werden des Drogenhandels beschuldigt und von ihrem Land vertrieben - das dann unter wenigen mächtigen Koksspediteuren aufgeteilt wird. Das dicht bewaldete, schwer zugängliche, staatlich geschützte Gebiet wird so zum Reservat für Narco-Bosse.
In dem zweiten Teil, "Wahnsinn" lautet der Titel, beschreibt Martínez die weitreichenden Folgen durch die Erosion des staatlichen Gewaltmonopols. Wie etwa unterschiedliche Banden El Salvadors die Gefängnisse unter ihre Kontrolle bringen, in einen rechtsfreien Raum verwandeln und hinter den Gittern Massenmorde an der Konkurrenz begehen. Oder wie die Drogenbosse von Guatemala längst Teil des politischen Systems geworden sind und nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden. Das wäre ja, wie Martínez schreibt, als würde ein Hund seinen Schwanz jagen.
Nur manchmal beißt sich nach dieser Logik der Hund dann doch in den Schwanz - auf Druck der USA, die ihren "war on drugs" auch über politischen und wirtschaftlichen Druck auf Guatemala führen.
Systematische Versklavung junger Frauen und Massaker
Unter Außenministerin Hilary Clinton begannen die USA, Guatemalas Maßnahmen gegen den Drogenhandel großzügig zu subventionieren - allerdings unter der Auflage, dass das Land einen erheblichen Teil des eigenen Staatshaushalts ebenfalls dafür investiert. Und folglich nicht in Bildung und Soziales. Ein hochrangiger guatemaltekischer Politiker macht deshalb eine bittere Rechnung vor Martínez auf: Weil 20 Millionen US-Bürger harte Drogen konsumieren, muss Guatemala 40 Prozent seines Budgets in den Krieg gegen diese Drogen fließen lassen.
Das Elend in Zentralamerika weist demnach längst über die Region hinaus - auch wegen der Menschenströme, die Martínez bereits in seiner Großreportage "The Beast" beschrieben hat und die er nun im dritten Teil seines neuen Buches, "Flucht" betitelt, noch einmal thematisiert. Da geht es zum Beispiel um die systematische Versklavung junger Frauen, die auf dem Weg in die USA sind. Oder um das Massaker, das die mexikanische Drogenbande Los Zetas an 268 salvadorianischen Flüchtlingen begangen hat, um klarzustellen, dass niemand abgabefrei ihr Revier durchquert.
Flucht als Erfahrung absoluten Ausgeliefertseins und kompletter Rechtlosigkeit - so wirft Óscar Martínez' Rechtsstaat-Requiem auch ein Licht auf die Flüchtlingsströme, die in Richtung Europa unterwegs sind.