Bestseller "Alles ist wahr" Erst der Tsunami und dann

Was verlorengeht, wenn ein Mensch stirbt: In "Alles ist wahr" erzählt Emmanuel Carrère mit unironischer Aufrichtigkeit von existentiellen Verunsicherungen - und hatte damit in Frankreich großen Erfolg.
Von Oskar Piegsa
Sonnenuntergang auf Sri Lanka: Nicht das Ende der Geschichte, sondern ihr Anfang

Sonnenuntergang auf Sri Lanka: Nicht das Ende der Geschichte, sondern ihr Anfang

Foto: Scott Barbour/ Getty Images

Wenn sich in einem Buch ein Paar trennen will, dann aber zusammenbleibt, nennt man das Happy End. In "Alles ist wahr" passiert genau das. Es ist aber nicht das Ende der Geschichte, sondern ihr Anfang, und glücklich ist er nicht. "Ich weiß noch, dass Hélène und ich in der Nacht vor der Welle davon gesprochen haben, uns zu trennen", so lautet der erste Satz von "Alles ist wahr".

Es ist der zweite Weihnachtstag 2004, und der französische Schriftsteller Emmanuel Carrère ist im Urlaub mit der Journalistin Hélène. "Heftig verliebt" waren Carrère und Hélène einmal, doch bereits ein Jahr später haben sie genug voneinander. Dieser Urlaub soll ihr letzter sein. Dann bricht der Tsunami über den kleinen Ferienort auf Sri Lanka herein.

Allein auf Sri Lanka sterben an diesem Tag mehr als 30.000 Menschen. Carrère und Hélène überleben. Ein Paar, mit dem die beiden sich im Urlaub angefreundet haben, verliert seine Tochter, "überall liegen graue, aufgeblähte Leichen". Plötzlich fehlen dem Schriftsteller die Worte. Er beschreibt "glänzende, fiebrige Augen, wie Leute, die von der Front zurückkehren". Von welcher Front? Die Tsunami-Katastrophe übersteigt seinen Erfahrungsschatz, er muss auf die Bilder von Kinofilmen zurückgreifen, um sie zu beschreiben.

Kurz nach ihrer Rückkehr nach Frankreich stirbt Hélènes Schwester Juliette an Krebs. Carrère kannte sie kaum. Als er nun ihrem Ehemann begegnet, ihren Kindern und dem Kollegen, mit dem Juliette als Richterin in einem provinziellen Amtsgericht für die Rechte von Armen und Schuldnern kämpfte, beschließt Carrère, über sie zu schreiben. Den Tod kann er nicht bezwingen, aber das Vergessen. Er beginnt eine Biografie über die Menschen, die Juliette nah waren, einen Text über das, was verlorengeht, wenn ein Mensch stirbt.

Emotionale Hürden

"D'autres vies que la mienne", lautet der Titel der französischen Ausgabe des Buchs, das in Frankreich ein Bestseller war, also etwa "Von anderen Leben als meinem". Das klingt sachlicher als der deutsche Titel "Alles ist wahr", der Nachfragen provoziert ("Ist in diesem Buch wirklich alles wahr?") und sich als Abschussrampe ins Theoretische anbietet ("Was ist das überhaupt, Wahrheit in der Literatur?"). Trotzdem ist der deutsche Titel treffend, denn Emmanuel Carrère trennt die "anderen Leben" gar nicht von seinem eigenen. "Von anderen" bedeutet bei ihm auch: von mir selbst. So war es schon in "Limonow", Carrères letzter Biografie, die ebenfalls memoirenhafte Züge trägt, weil der Autor sein eigenes Leben als Kontrastfolie zu dem seines Protagonisten anlegt, dem russischen Schriftsteller und Nationalbolschewisten Eduard Limonow.

"Alles ist wahr", das ist der Anspruch von Carrère. Sein Buch zeigt nicht nur das Ergebnis einer Recherche, sondern bildet den Prozess des Recherchierens ab: Carrère beschreibt wohin er fährt, wen er spricht, welche bürokratischen und emotionalen Hürden er dabei nehmen muss.

Sogar das unlektorierte Manuskript findet Eingang in sein Buch. Vor der Veröffentlichung ließ Carrère seine Gesprächspartner den Text lesen und kommentieren. An mehreren Stellen greift er ihre Anmerkungen auf. Das ist kein Trick, der den Text als Text entlarvt und den Leser warnt, dass Sprache niemals die ganze Realität einzufangen im Stande ist, dem Buch also zu misstrauen sei. Es ist eher das Gegenteil: ein Versuch, noch wahrhaftiger zu schreiben und die Persönlichkeiten seiner Protagonisten noch besser abzubilden.

Peinlichkeiten aushalten

Dieses Buch ist ein Experiment. Emmanuel Carrère geht ein erzählerisches Wagnis ein, wenn etwa die Eltern des toten Mädchens in Sri Lanka später keine Rolle mehr spielen oder er seine Freundin Hélène über das Leben ihrer verstorbenen Schwester Juliette zu vergessen scheint. Carrère hat zu viel Kontrolle über seine Sprache, als dass man sein Buch als irrlichternd empfinden würde. Trotzdem: Wenn auf die Brutalität des Tsunamis die Bürokratie folgt, die Juliettes Leben am Amtsgericht dominierte, muss man als Leser bereit sein, diesen Tempo- und Stimmungswechsel auszuhalten.

"Alles ist wahr" passt in unsere krisenhafte Zeit. Nicht nur, weil Carrère von existentiellen Verunsicherungen erzählt, sondern auch, weil er das mit dem Anspruch unironischer Aufrichtigkeit tut. "Postironie" und "Neue Aufrichtigkeit" sind zwei der Begriffe, die gerade durch die ästhetischen Debatten in Kunst und Popkultur rauschen und den Wunsch beschreiben, die Unverbindlichkeiten der Postmoderne zu überwinden, ohne in Nostalgie zu verfallen. Es geht darum, verbindlich zu handeln, Nähe zu anderen Menschen zu suchen und Peinlichkeiten zuzulassen. Carrère teilt dieses Anliegen. Man kann das von vornherein pathetisch, narzisstisch oder naiv finden. Oder sich ganz unzynisch darauf einlassen.

Wer durchhält, wird belohnt. Die Geschichte von "Alles ist wahr" ist schön aber nicht kitschig - obwohl es am Ende doch ein Happy End gibt.

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