Epilepsie-Roman Von Fall zu Anfall
Wer sich auf der britischen Seite von Wikipedia die Biografie des Autors Ray Robinson durchliest, wird sich einigermaßen wundern: Von Ziegen sei er aufgezogen worden, er habe ein Wörterbuch Englisch-Ziegisch, Ziegisch-Englisch veröffentlicht. Und eine finstere ziegenartige Sekte habe seine Bücher schließlich öffentlich verspeist, weshalb Robinson nun im Untergrund lebe.
Es findet sich dann noch der Hinweis der Wikipedia-Redaktion aus dem Jahr 2007, der Text bedürfe der Überarbeitung, um den Standards zu genügen.
Wer auch immer hinter "Pete500" steckt, der diese Nonsens-Biografie verfasst hat, ob es ein Freund, Feind oder gar der Schriftsteller selbst ist Robinson behauptet in Interviews, er leide immer noch unter seiner buchlosen, einfachen Kindheit in North Yorkshire.
Er habe sich das Schreiben von Büchern mühsam erarbeiten müssen, habe sogar das Schreiben vor dem Lesen begonnen, weshalb sein erster, unveröffentlichter Roman als Schnipselberg geendet sei und der zweite, ebenfalls unveröffentlichte Roman mehr aus Form denn aus Inhalt bestanden habe.
Ist ja auch egal, was davon nun stimmt. Was zählt, ist das veröffentlichte Werk, und das ist der jetzt auf Deutsch erschienene Roman "Lily". Er basiert auf einer Kurzgeschichte, die Robinson, 37, während seines Creative-Writing-Studiums verfasste.
Die Ich-Erzählerin Lily O'Connor ist eine 30-jährige Epileptikerin, die in einem nordenglischen Küstenort an der Kasse eines Casinos arbeitet. Sie stammt aus der Arbeiter- und Arbeitslosenschicht, hat eine scheußliche Kindheit lang unter ihrer Mutter gelitten, die sie als Baby die Treppe runterfallen ließ, was wahrscheinlich Ursache der Epilepsie ist, und die ihre Tochter dann später in ein Heim steckte.
Zu ihren älteren Brüdern Barry und Mikey hat Lily seit Jahren keinen Kontakt. Sie hat sich in einen eingezwängten Alltag zurückgezogen zwischen kleiner Wohnung, in der sie die Wände mit Anweisungen an sich selbst vollgekritzelt hat, dem Casino und seltsamen, aber freundlich gesinnten guten Bekannten.
Alles ändert sich, als die verhasste Mutter stirbt und Lily gemeinsam mit ihren Brüdern ein kleines Vermögen aus dem Verkauf des rasant im Wert gestiegenen Elternhauses bekommt. Der Berufszocker Barry will mit dem Geld eine professionelle Pokerkarriere in den USA starten; Lily will es nutzen, um ihren verschwundenen Lieblingsbruder Mikey in London zu finden und ihm seinen Erbanteil zu geben.
Für die Epileptikerin ist die Reise in die Fremde ein schwieriges Abenteuer, aber sie lernt eine nette Lesbe kennen, die sie unterstützt bei ihrer Suche nach Mikey, geht endlich eine Beziehung mit einem Mann ein und wird allmählich zu einer Lily, die ihr Leben nicht mehr nach der Angst vor den Anfällen ausrichtet, sondern nach ihren eigenen Wünschen.
Das klingt ein wenig zu schön, um ein guter Roman zu sein, und tatsächlich hat die Geschichte reichlich viel Happy End. Aber wie Robinson sich seiner Heldin annähert, wie er zeigt, dass sich ihr Denken allmählich verklart, wie präzise er die epileptischen Anfälle beschreibt (seine Cousine war Epileptikerin), das ist wirklich eindrucksvoll. Und spannend ist die Geschichte, die er erzählt, noch dazu. Und trotz aller Tragik immer wieder lustig. Und weil Robinson auch Grafikdesign studiert hat, hat er die Anfälle grafisch dargestellt, als seitenlanges Buchstaben-Stöhnen und -Schreien "arrrrg, heeeeey, aaaaa, grie hrrnjarrGGG"). Das macht "Lily" ebenfalls zu einem besonderen Buch.
Buch Ray Robinson: "Lily". Aus dem Englischen von Gregor Hens. Mare Buchverlag, Hamburg; 384 Seiten; 19,90 Euro. Website von Ray Robinson .