Erinnerungsroman Aufschlussreiche Sprachbefreiung

Eine Erzählerin, die am "Locked-in-Syndrom" leidet: Aus dieser Idee macht Kathrin Schmidt Literatur. Ihre Heldin muss nach schwerem Zusammenbruch alles neu lernen - vor allem die Sprache und das Erinnern. Ein intimer, aufrüttelnder Bericht aus dem Verlies des Körpers.
Von Katrin Hillgruber

"DieStrümpfedasHemddieHitzederFußpilzdieHändedie
FüßedieHolzpantoletten": Das sind noch zu viele Worte für die Patientin Helene, sie kapituliert. Dabei war ihr doch gerade erst, bei einer Autofahrt mit Freunden, das Wort "bestrumpft" wieder eingefallen - und plötzlich klingt Strumpf wie Triumph.

Erst 44 Jahre alt ist die Schriftstellerin Helene Wesendahl, als sie ein unfassbarer Schicksalsschlag ereilt: eine Hirnblutung durch ein geplatztes Aneurysma. Ein Klappern weckt sie aus tiefem, traumlosem Schlaf. Doch es ist nicht das Silberbesteck ihrer Mutter, das sie von ferne hört, sondern irgendeine der unzähligen Apparaturen im Krankenhauszimmer.

Sie erkennt ihre 14-jährige Tochter wieder, die einen Sprachaufenthalt in London abbrach und nun verweint vor ihrem Bett steht. "O, where do you come from? From London?", fragt Helene nach Schulbuch-Manier, bis sie merkt, dass nur ihre innere Stimme diese Frage formuliert hat. Denn sie kann zwar nach wie vor klar denken, aber nicht mehr sprechen. "Locked-in-Syndrom" heißt dieses teuflische Phänomen - das Gefangensein im eigenen Körper, bei dem im schlimmsten Fall nur noch Blinzeln möglich ist.

Wie ein Schutzschild ziert ein Foto der widerständigen Heilpflanze Aloe Vera den Umschlag des Romans. Kathrin Schmidt, 1958 in Gotha geboren und ausgebildete Diplom-Psychologin, schreibt über ihre eigene Krankheit, wenn sie in die stumme, weinende, um jede vertraute Bewegung und jedes neue Wort kämpfende Helene schlüpft.

Körper und Katastrophe

Der Leser erlebt diesen frappierenden Kampf eins zu eins aus der Perspektive der Heldin, ist mit ihr in diesem fremden Frauenkörper gefangen wie einst bei Kafka der rechtschaffene Gregor Samsa in seinem Käferpanzer.

Aber wer einen larmoyanten Betroffenheitsreport erwartet, liegt bei dieser Autorin, die sich mit ihrer Spielart des phantastischen Realismus ("Die Gunnar-Lennefsen-Expedition") sowie als Lyrikerin beachtlichen Ruhm erworben hat, völlig falsch. Erneut erweist sich Kathrin Schmidt als Erzählvirtuosin, die kollektive historische Erinnerungspartikel im persönlichen Schicksal ihrer Protagonisten zum Vorschein bringt.

In Helene dämmert allmählich ihre DDR-Jugend wieder herauf, und ebenso, dass sie sich kurz vor dem Hirnschlag von ihrem Mann Matthes trennen wollte: "Matthes? Sie versucht, in ihre Augen etwas Wissendes hineinzubugsieren, es von hinten aus dem Schädel durch die Sehnerven nach vorn zu blasen. An das Auspusten von Eiern muss sie dabei denken: Das Wissende platscht womöglich wie Dotter, mit Eiweiß gemischt, einfach hinab!"

Wie aber trennt man sich als hilflose Patientin, die ihrem rührend besorgten Mann zu Dankbarkeit verpflichtet ist? Und war da nicht auch noch diese flirrende Affäre mit Viola, dem Transsexuellen? Hat sie dieses erotische Spannungsfeld womöglich überfordert? Violas E-Mails werden zu einer entscheidenden Stütze für ihre wiederkehrende Erinnerung. Ansonsten lautet ihr Tagesprogramm: Reha, Schlaf, Lektüreversuche, Schlaf.

So zeichnet "Du stirbst nicht" neben einer ergreifenden Krankengeschichte auch eine Selbstfindung - von einer Intensität, wie vor allem die Literatur sie bieten kann. Kathrin Schmidt bedient sich einer sehr plastischen, auch komischen Sprache. Die tastende Rückkehr ins Leben ist von Philologie in ihrer reinsten, schönsten Form geprägt: der Liebe zum Wort, die jedes wiedergefundene Liebesobjekt erst einmal wie einen Fremdkörper begutachtet.


Buch Kathrin Schmidt: "Du stirbst nicht"  Kiepenheuer & Witsch, Köln; 352 Seiten; 19,95 Euro.

Lesungen (Auswahl) 

26.4. Berlin (Kunsthaus Flora, Florastr. 113, 11 Uhr); 7.5. Berlin (Buchhändlerkeller, Carmerstr. 7, 21 Uhr); 19.5. Berlin (Literaturforum im Brecht-Haus, Chausseestr. 125, 20 Uhr); 27.5. Marbach (Deutsches Literaturarchiv, Schillerhöhe 8-10, 20 Uhr); 28.5. Leipzig (Galerie Koenitz, Dittrichring 16, 19 Uhr).

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