"Der Überlebende" In der Kältekammer des Kapitalismus

Händler-Thema Roboter: Greta und der Powerwolf W-8-2000
Foto: CorbisDer namenlose Held in Ernst-Wilhelm Händlers neuem Roman "Der Überlebende" ist ein paranoider, bösartiger Autist. Ein Misanthrop, der "die nutzlos in sich selbst vergaffte Natur der menschlichen Beziehungen" hasst und lieber in einem Geheimprojekt die Entwicklung von intelligenten Robotern vorantreibt. Als Leiter eines Elektrotechnikwerks, das Geräte mit schaurigen Namen wie Powerwolf W-8 2000 herstellt, hat er alle Möglichkeiten, seine Leidenschaften auszuleben.
Er hat eine genaue Vorstellung vom eigenen Wesen: "Die Wahrheit des Bösen, das bin ich." Haben wir es also mit einem Mann zu tun, der auf dem Evil-O-Meter die Höhen eines James-Bond-Schurken erreicht? Ernst-Wilhelm Händler, dessen kühle Sprache in den bislang sechs Romanen zu Recht für ihre große Suggestivkraft gepriesen wird, führt mit seinem "Überlebenden" einen fiesen Totalangriff auf das Humane aus. Es ist leicht, dahinter eine moralische Verteidigung des Homo sapiens zu sehen, aber das Experiment mit der Gefühllosigkeit reizt den 59-jährigen Unternehmer und Schriftsteller offensichtlich: Die Welt des Erzählers ist eine Kältekammer des Kapitalismus.
An ihr arbeitet sich Händler seit seinem ersten Erzählungsband "Stadt mit Häusern" ab. Als sein bestes Buch gilt "Wenn wir sterben" aus dem Jahr 2002, das exemplarisch am Schicksal von vier Geschäftsfrauen die destruktive Kraft der Industrie- und Leistungsgesellschaft zeigt. In einer Gegenwart, in der die Legitimation unserer Marktwirtschaft auf dem Prüfstand steht, stellt Händlers Romanwerk Fragen, die sonst in Talkshows und Leitartikeln verhandelt werden.
Affäre mit Entscheidungsträgerin
Anders als etwa Rainald Goetz mit seinem im Herbst erschienenen Roman "Johann Holtrop" verzichtet Händler ganz auf Ironie und Komik - erzählt aber auch, wie "Holtrop", von der Hybris der Wirtschaftswelt, von den Intrigen ihrer Leistungsträger, den Abnutzungskämpfen und gnadenlosen Konkurrenzkabbeleien. Aber es erscheint doch alles viel zu grell, um sich davon als Leser nachhaltig beeindrucken zu lassen.
"Der Überlebende" ist vor allem eine große Übertreibung, ein auf den Mythos des hemmungslosen Forscherdrangs hingeschriebenes Gruselstück. Der Ich-Erzähler berechnet sein Umfeld nach den Notwendigkeiten seiner Robotermanie. Er fängt mit einer Entscheidungsträgerin seines global operierenden Unternehmens eine Affäre an, um das Projekt zu schützen, das eine Beleidigung für Menschenstolz und Menschenwürde ist - die Herrschaft des Algorithmus als Ziel aller Träume. Die Ehefrau bringt er um, ob unabsichtlich oder nicht macht am Ende keinen Unterschied: Sie gefährdet das Projekt. Das gilt auch für jeden anderen in der Firma, in der dieser Mad Professor eine Permanentüberwachung installiert.
Der Mann hat seine Seele verkauft, er ist ein Doktor Faustus des dritten Jahrtausends. Während er im Ego-Kabinett seines Roboterlabors an der Abschaffung der Menschheit arbeitet, schreibt er bekenntnishaft die Geschehnisse seiner Sci-Fi-Phantasien nieder. Dabei spricht er immer wieder seine tote Frau an, als könne sie ihm seine Sünden abnehmen. Ist er doch kein Monster? Setzt er seinem Streben nach Erkenntnis Grenzen? Kaum, denn auch die Tochter, vielsagend Greta benannt, wendet sich mit Grausen ab.
Aber die penetrante Ausstellung seiner schlechten Absichten ("Die Menschen wissen, dass die Gefühle, die ich gegenüber ihnen zeige, nicht echt sind") nimmt nicht nur ihm, sondern dem ganzen Buch einiges von seiner diabolischen Tiefe.
Oder ist das wieder nur die Banalität des Bösen?
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